11/23: ANTIPOLE & PARIS ALEXANDER, GIRLS UNDER GLASS, SVNTAX ERROR, G.RAG/ZELIG IMPLOSION DELUXXE, MAUD THE MOTH & TRAJEDESALIVA: VON BEZAUBERND BIS VERSTÖREND - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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11/23: ANTIPOLE & PARIS ALEXANDER, GIRLS UNDER GLASS, SVNTAX ERROR, G.RAG/ZELIG IMPLOSION DELUXXE, MAUD THE MOTH & TRAJEDESALIVA: VON BEZAUBERND BIS VERSTÖREND

Kling & Klang > KURZ ANGESPIELT > 2023
Karl Morten Dahl alias Antipole liebt die Zweisamkeit. Zumindest in musikalischer Hinsicht. Denn der Norweger verbündet sich gerne mit anderen Kollegen, um wunderbare Kleinode zu schaffen, wie beispielsweise "A Haunted Place", welches er zusammen mit Pete Burns alias Kill Shelter vor rund zwei Jahren erdacht hat. Nun kommt ein weiterer Brite an seiner Seite: Paris Alexander. Beide haben über die Jahre immer wieder zueinander gefunden und Songs komponiert, "Crystalline" ist ihre erstes gemeinsames Album. Karl geht dabei offensichtlich auf seine Partner zu. War die Kollaboration mit Kill Shelter von einem wesentlich rockigeren Post-Punk-Sound durchzogen, bleibt "Crystalline" ein angenehm schwebendes Konglomerat aus weitläufigen Cold-Wave-Nummern, die Tanzbarkeit mit Ausweglosigkeit gut zu kombinieren verstehen. Zwei Songs sind dabei hervorzuheben: "Bleached" und "Midnight Shadows", denn sie verfolgen ein einfaches, aber wirkungsvolles Rezept. Die sauber und druckvoll produzierten Beats werden von brodelnden Basssequenzen umrankt, während sensüchtelnde Gitarre in Noten gefassten Existenzialismus verkörpern. Darüber flüstern oder singen monoten die beiden Musiker und schaffen so eine undurchdringliche Atmosphäre, in der sich das Individuum auf der Tanzfläche durch von Stroboskopblitzen durchzuckte Nebelschwaden vom nihilistischen Moment leiten lässt. Oder weniger schwülstig ausgedrückt: Diese beiden Stücke werden ihren Weg in die Clubs machen. Ihre gesonderte Hervorhebung bedeutet aber nicht im Umkehrschluss, dass der Rest von "Crystalline" unter "ferner liefen" landen. Das ganze Album ist ein wohldurchdachtes Gesamtkunstwerk geworden, dem man höchstens vorwerfen kann, dass es mit knapp 30 Minuten extrem kurz ausgefallen ist. Aber wichtiger ist immer Qualität statt Quantität.

Das gilt ebenfalls für Girls Under Glass, die sich sage und schreibe 18 Jahre Zeit gelassen haben, um den Nachfolger des damals von Presse und Fans beidermaßen gelobten "Zyklus" zu veröffentlichen. Vor dieser langen Pause schafften die Hamburger seit ihrem Debüt "Humus" von 1988, im Ein- und Zweijahresrhythmus essentielle Alben zu veröffentlichen, welche die Band immer wieder neu definierten. "Backdraft" wirkt daher auch ein bisschen wie der Blick zurück, greift er doch die verschiedenen Bandphasen auf, ohne aber in retrograden Konservatismus zu verfallen. "Backdraft" klingt schon nach 2023: Die Produktion ist kristallklar und aufgeräumt (was kaum verwundert, wenn man einen Mann wie Axel Ermes, einer der besten Tonmeister der Szene, in seinen Reihen weiß). Nur die Sounds und Klagstrukturen erinnern an eine vermeintlich bessere Zeit. "Eiskalt Sunburst" und "Tanz im Neonlicht" ist beste Minimal- und Cold-Wave-Unterhaltung, wohingegen "Nightkiss" oder auch "Endless Nights" die dunkelrockige Seite des Vieregespanns offenlegt. "Tainted" als Vorabsingle zu veröffentlichen macht übrigens Sinn, denn das Stück repräsentiert wie keine zweite Nummer die neue Herangehensweise von Girls Under Glass. Ursprünglich stammt der Song von der Gruppe Mortiis, die auch in der Neubearbeitung mit an Bord gewesen ist. GUG haben die Nummer, die ebenfalls schon 15 Lenzen zählt, aber von der seinerzeit viel zu wenig Notiz genommen wurde, in ihrer Struktur belassen und die Sounds etwas aufgefrischt. Ein Sinnbild für "Backdraft", das nicht das Rad neu erfinden will, sondern einfach nur wieder in Schwung bringen möchte.


Schwung hingegen ist nicht gerade das Wort der Wahl, um die Musik von Svntax Error zu bezeichnen. Die gemächliche Einzählen der Takte mit den Drumsticks beim Opener "Radio Silence" zeigt es an: es geht entspannt zu bei "The Vanishing Existence", doch die psychedelischen Gitarren vermitteln bereits hier eine aquatische Tiefe, die sich auch im melancholischen Artwork, auf dem eine leblos im Wasser treibende Frau zu sehen ist, manifestiert. Bei "Broken Nighrmares" hören wir zum ersten Mal Ben Aylward, der seine Texte mit einer ganz eigensinigen Traurigkeit vorträgt. Einerseits wirkt es so, als würde Himmel und Erde gerade auf ihn einstürzen, andererseits wirkt er jedoch nicht bedrückt, sondern eher gefasst, ja, fasst ein bisschen glücklich ob seiner eigens erdachten Tristesse. Als Einflüsse nennt der Beipackzettel unter anderem Nick Cave (klar, die Aussies halten zusammen) und The Cure, aber auch Mogwai, was angesichts der epochalen Songstrukturen (kein Stück unter fünf Minuten), der untergeordneten Rolle des Sängers sowie eines freien Umgangs mit den klassischen Strophe-Refrain-Strophe-Strukturen schon näher liegt. Svntax Error interpretieren Post-Rock sehr frei, lassen bei "215 Days" auch mal ein bisschen psychedelisches Pop-Appeal durchschimmern und spielen mit Gesangsverfremdungen im Titelsong. Dss Element Wasser zieht sich dabei wie ein loser roter Faden durch die Kompositionen, die gleichzeitig den Hörer zur Ruhe kommen lassen und ihm in dieser Kontemplation kleine melancholische Nadelstiche verpasst, sodass die Emotionen unter der Oberfläche weiter aktiv sind, während an der Oberfläche eine glatte See herrscht.


Manchmal trügt die perfekte Oberfläche eben. Hinter der Fassade spielt sich dann manchmal Unglaubliches ab. Wie beispielsweise in München, die Stadt für Schickimicki und Lachsröllchen. Doch auch in dieser versnobbten Stadt brodelt es im Hinterhof. Und wo es brodelt, ist Andreas Staebler alias G.Rag nicht weit. Mit den Landlergschwistern verleiht er der bayerischen Volksmusik neue Würde und Frische, bei Hermanos Patchekos wird den südamerikanischen Rhythmen gefrönt. Beide Gruppen gehen über die übliche Bandbesetzung hinaus; es sind schon kleine Orchester, die Andreas da leitet. Mit seinen Kumpels Zelig und Doktor Deluxxe hat er 2014 G.Rag/Zelig Implosion Deluxxe gegründet, um die Einfachheit und auch Unmittelbarkeit der Musik wieder zu spüren. Glücklicherweise hat er sich für einen DIY-Proto-Post-Punk entschieden, den er auf dem aktuellen Werk "Komm schwimmen" weiter ausbreitet, während Prof. Deluxxe am Synthesizer knarzig-angestaubte Sequenzen beisteuert. Diese dadaistische Kunst kulminiert in der Neuinterpretation von "Strawberry Fields" von den Beatles, dass musikalisch an eine rudimentäre Form von Airs "Sexy Boy" erinnert, während der Text teilnahmslos und in veränderter Melodie weggesungen wird. "Komm schwimmen" klingt wie ein Produkt von 1979, als Deutschland sich noch vom heißen Herbst erholte, während in Clubs wie dem "Ratinger Hof" oder "SO 36" eifrig an einer Musik geschraubt wurde, die sich am britischen Punk orientiert und später als Neue Deutsche Welle mit Totengräber Dieter Thomas Heck zur Erde gelassen wurde. "Komm schwimmen" kommt also 44 Jahre zu spät - und angesichts der dramatischen Weltlage dann doch wieder zum richtigen Zeitpunkt.


In absolut eskapistischer Manier haben Maud The Moth und Trajedesaliva mit "Bordando el manto terrestre", zu deutsch etwa: den Erdmantel zunähen, ein Album kreiert, das sich komplett in die Welt der Kunst versteigt. Die beiden Projekte vereinen ihre beiden Vorzüge - synthetischer Abstraktismus auf der einen Seite, mysteriöser Dark-Folk auf der anderen - und gießen sie in dieses Album, das die Geschichte der surrealistischen Malerin Remedios Varo zum Inhalt hat. In der Gruppe der Surrealisten um André Breton und anderen stach sie nicht dermaßen heraus, es ist jedoch ihr steiniger Lebensweg, der berührt. 1908 geboren, gelangte sie nach Frankreich und musste nach der Machtergreifung Hitlers nach Mexiko fliehen. Dort entstanden ein Großteil ihrer Werke, die 2001 von Mexiko zum nationalen Kulturgut ernannt worden sind. "Bordando el manto terrestre" konzentriert sich vor allem auf die Gegenüberstellung zwischen alter und neuer Heimat, zwischen Kriegswirren und Hoffnungsschimmer. Besonders in den sakralen Momenten, bei dem flirrende Synthesizerteppiche die behutsam arrangierten Stücke transzendental erhöhen, verlassen wir die Welt der Realität und tauchen in eine Fantasie, die sich auch in Varos Bilder wiederfinden lassen. "Perla" oder "Jardincito de rosa y tierra" erheben sich durch übergelagerte Stimmen und einem Synthesizer-Sternenhimmel. Der Wechsel zwischen dem Sprechgesang unavenas von Trajedesaliva und dem durchdringenden, elbischen Gesang von Amaya López-Carromero alias Maud The Moth ist perfekt aufeinander abgestimmt, wie das ganze Album überhaupt einen geschlossenen, liebenswürdigen, wiewohl auch anspruchsvollen Kosmos erschaffen hat, aufgerüscht mit einem außergewöhnlichen Artwork.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.06.23 | KONTAKT | WEITER: HOLLI VS. EFEU>

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