THE DEAD BROTHERS "ANGST" VS. VIECH "HEUTE NACHT NACH BUDAPEST": UND IN DER FERNE TOM WAITS - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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THE DEAD BROTHERS "ANGST" VS. VIECH "HEUTE NACHT NACH BUDAPEST": UND IN DER FERNE TOM WAITS

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Wenn es um Skurrilität in der Popmusik geht, führt eigentlich kein Weg an Tom Waits vorbei. Sein Oeuvre, das von jazzig angehauchten Mitternachts-Serenaden bis polterndem Experimental-Vaudeville-Folk reicht, unterstreicht das Multi-Talent mit seinem Image als umherfahrender Landstreicher und der Verkörperung des zu Bruch gegangenen amerikanischen Traums.

Zweifelsohne dürfen sich The Dead Brothers aus Genf zumindest ansatzweise mit diesem Knaben beschäftigt haben. Schließlich umwehen ihre Alben nicht selten ein Hauch von moribunder Wanderbühnen-Atmosphäre. Die Dead Brothers sind wie untote Jahrmarktsleute des späten 19. Jahrhunderts, die aus der Gruft gestiegen sind, um uns mit dem Eröffnungsstück "Le Sifflet Des Mineurs", zu deutsch etwa: "Die Pfeife der Bergleute", an jenen Ort zu geleiten, der unser aller letzter sein wird: nämlich unter Tage.

Das blümerante Fiepen der Drehorgel markiert das siebte Album als ein alles niedermähendes Werk aus ansprechenden Eigenkompositionen und wundersamen Adaptionen traditonellen Liedguts, Literaturvorlagen und Chansons. So verwandelt sich das psychedelisch-beschwingte yéyé-Stückchen "Les Papillons Noirs" von Serge Gainsbourg in eine räudige Kaschemmen-Nummer. Es poltern die Bläser, es jaulen die Streicher und ein trockener Rumba begleitet Rudolphe Burger, dessen stimmliche Imitation des französischen Skandal-Songwriters einfach perfekt ist.

Alles auf "Angst" kündet von Verfall. Ihr Album gleicht einem Blick auf ein altes Bild aus den Anfangstagen der Fotografie: die Ecken sind ausgebleicht und von Säuren zersetzt. Die Menschen blicken mit starren Gesichtern den Betrachter an, ganz so, als wollen sie einen auf ihre Seite rüberziehen (ein ähnliches Gefühl kommt auch beim Blick auf das Albumcover in einem hoch). Hier wird die Verbindung zu Tom Waits deutlich - man höre sich nur sein geniales Werk "Orphans - Brawlers, Bawlers & Bastards" von 2007 an. Kein Wunder also, dass ein Stück wie "Ghost Train" mit seinem fiebrigen Americana-Sound und dem Flüstertüten-Gesang sich wie eine überdeutliche Hommage an diesen positiv Wahnsinnigen
geriert.

Der Eklektizismus bei "Angst" fängt da aber
erst an. "Mean Blue Spirit" beispielsweise verquickt den Text von Bessie Smiths "Blue Spirit Blues" mit dem "Trauermarsch" von Frédéric Chopin. Ganz so, als wäre diese Verbindung das Selbstverständlichste auf der Welt. Und im Titellied greifen sie auf die herrlich albträumerischen Zeilen von Robert Walser zurück, dem sie ein yiddisches Arrangement verpassen und so auch mit einem Augenzwinkern den feststehenden Begriff der "German Angst" kokett thematisieren.

Nicht zuletzt gedenken die Toten Brüder auch ihrer eidgenössischen Heimat. Doch bei "Zeirly" sind die Kuhglocken metallisch verhallte Erinnerungsfetzen, die Geigen und das Akkordeon schleppen sich mit letzter Kraft durch die totbringende Nummer. Geradezu orientalisch dagegen mutet "Es isch kei soelige Stamme" an, ein Emmentaler Traditional der so genannten Küher, einem Berufsstand, der bis Ende des vorletzten Jahrhunderts existierte. Statt Jodeleien ertönen Sackpfeifen und schwere Trommelschläge, die passend zum demütigen Chor-Gesang eine sakrale, gottestreue Aura entwickeln.


"Angst" ist ein tönernes Panoptikum, geleitet vom Wissen um unsere Vergänglichkeit, sowohl individuell als auch kulturell.


Während die Schweizer aber immer wie Chronisten auf die Szenerien blicken, kann man den Protagonisten bei den Songs von Viech direkt beim Kaputtgehen zuschauen. "Heute Nacht nach Budapest" markiert einen spontanen Eskapismus, ein Verlassen oder auch Verlassen werden, den alle Songs mehr oder weniger durchziehen. In erster Linie geht es um gescheiterte Beziehungen, die bisweilen nur darauf warten, beendet zu werden ("Schwarzer Peter") oder an den Erwartungen des Gegenübers scheitern ("Bartleby").

Sänger Paul Plut weckt mit seiner rauchig-öligen Stimme die teilweise bemitleidenswerten Existenzen zum Leben, lässt selbst einen Kleinganoven in "Ich habe viele Fehler gemacht" reumütig zu seiner Frau/Liebsten zurückkehren und findet schlussendlich in "Ich kanns nicht mehr hören" deutliche Worte zum Abschied von einer heuchlerischen Person.

Mit rockiger Rumpel-Romantik spielt sich das Trio bewusst in die Konfrontationszone und bietet eine scheppernde Alternative zum drögen Deutsch-Pop-Quatsch heimischer Barden, die sich stereotypisch in Richtung Meer wegträumen oder nichtssagende Sommerfrischen in Schweden verbringen. Nein: Bei Viech riecht es nach Benzin, Asphalt und übervollen Aschenbechern in dubiosen Eckkneipen, in denen sich die zwielichtigen Gestalten und abgebrochenen Verlierer tummeln. Schließlich ist die Reisedestination Budapest, ergo: Ungarn. Das erinnert an schwermütige, royale Bauten, die als Überreste einer glanzvollen kaiserlich-königlichen Vergangenheit eine perfekte Kulisse für all die kleinen Katastrophen bilden, die sich auf diesem Album abspielen


Im Gegensatz zu den Indie-Rockern von Wanda
, seit einigen Jahren das Aushängeschild in Sachen alkoholdurchtränkten Indie-Rocks, besitzen Viech eine kauzige Schroffheit, aber auch unglaubliche Coolness, die sich durch fahle Rhythmen, staubige Gitarren und leicht dissonantem Mehrstimmen-Gesang (beachtlich dabei: Martina Stranger) materialisiert.

Bei aller Niedergeschlagenheit lässt das Dreiergespann gerne auch einige Überzeichnungen zu. Diese gipfeln in "Die Juwelen" dann in einer überdrehten Story einer raffgierigen Frau, die schon einige Männer wegen des Geldes hinter sich gebracht hat und auch vorm Sparstrumpf ihrer Großeltern nicht halt macht. Da muss dann der renitente Opa eben durch einen beherzten Schlag mit dem prallen Geldsäckel mundtot gemacht werden. Das ist österreichisch-morbider Humor, vorgetragen in akzentfreiem Hochdeutsch.


Besond
ers das schelmische Moment sowie der kratzige Gesang lassen vermuten, dass Plut und Konsorten ebenfalls den Namen Tom Waits in der einen oder anderen durchzechten Nacht zumindest schon mal gehört haben müssen. Denn so heiser krakeelend über Beziehungsbrüche zu singen, ist dann doch eindeutig sein Metier.

Wie zuvor The Dead Borthers schaffen es auch Viech, sich dem großen amerikanischen Ausnahmekünster zu nähern, ihm von weiten zuzuwinken, um dann wieder - wie auch der Vagabund Waits - weiter ihrer Wege zu gehen. Dass diese stets steinig bleiben werden, wissen sie. Aber sie wissen auch, dass diese einfach die interressanteren sind.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 26.03.2018 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 3/18>


Webseite:
www.deadbrothers.com
www.viech.org


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COVER © VOODOO RHYTHM RECORDS/CARGO RECORDS (THE DEAD BROTHERS), PHONOTRON/ BROKEN SILENCE (VIECH)

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