MICHAEL ROTHER "SOLO 2" UND "DREAMING": MEISTER DER POSTKARTEN-ELEKTRONIK - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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MICHAEL ROTHER "SOLO 2" UND "DREAMING": MEISTER DER POSTKARTEN-ELEKTRONIK

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Michael Rother ist vielleicht das, was man einen naiven Musiker nennen kann. Schließlich hat sich der Mann, der nicht nur Kraftwerk beeinflusst, sondern mit NEU! und Harmonia auch den Kraut-Rock international salonfähig gemacht hat, immer eine musikalische Vision besessen, die er entgegen der gängigen Gepflogenheiten des Musikbusiness verfolgt hat. Sehr zum Unbehagen der Plattenfirmen, denn Rother ist lange Zeit expliziter Studio-Musiker gewesen, der nicht oder nur sehr ungerne live auftrat. Kaum ist das eine Album im Kasten gewesen, hat er sich an das nächste Werk rangewagt. Immer mit dem Ziel, seinen Rother-Sound stetig zu verfeinern.

Bereits in seinen frühen Jahren, die vergangenes Jahr mit der ersten "Solo" Box abgedeckt worden sind, wurde sein Faible für ein einzigartiges Klangidyll deutlich. Seine Stücke waren tongewordene Ansichtskarten. Ein bisschen kitschig vielleicht, aber gleichzeitig auch das Abbild eines Ideal. Gerade in den frühen Alben zeigt sich die gute Seite deutscher Gemütlichkeit, die sich nicht zwangsläufig in bierseligem Beisammensein äußert, sondern einer romantischen Naturliebe folgt. Quasi Volks-Musik im besten Sinne.


Diese Idee schwingt auch bei "Lust" von 1983 mit, an dem "Solo II" ansetzt. Die Zäsur der beiden Kompendien hier anzulegen, war gut gewählt, änderte sich doch in den 80ern Rothers Instrumentarium. Gitarren und der organische Robotik-Beat von Jaki Liebezeit wurden gegen Drumcomputer und jeder Menge, für damalige Verhältnisse neue, Elektronik eingetauscht (Rother besaß in seinem Studio bereits früh eine Fairlight CMI, quasi das It-Piece für elektronische Musik). Doch noch bleiben Songs wie "Palmengarten", "Primadonna" und "Cascadia" dem Erfolgskonzept des Debüts "Flammende Herzen" verhaftet.

Mit dem zwei Jahre später erschienenen "Süssherz und Tiefenschärfe" greift er noch einmal auf träumerische Gitarren zurück, um ihnen dann auf dem 1987er "Traumreisen" mehr oder weniger lebe wohl zu sagen. In dieser Zeit öffnet sich Rothers Musik immer stärker den aufkommenden Ambient-Klängen. Man höre sich einfach nur "Singapore Lore" vom Album "Esperanza" an: Sonnendurchflutete Elektronik wird hier zum wundervollen Destillat.

"Esperanza" erschien 1996 auf seinem eigenen Label, eine Konsequenz aus dem ewigen Hickhack des Künstlers mit den Plattenfirmen, die sich an Rothers Arbeitsweise störten und in dieser Zeit wohl wenig mit einem "alten Kraut-Rocker" etwas anfangen konnten. Dabei besitzt gerade "Esperanza" eine Menge an zeitloser Musik, die auch heutzutage sicherlich gut für die eine oder andere Chill-Out-Bar an den Stränden dieser Erde funktionieren könnte. Auch wenn er bei "Spirit of '72" gerne noch einmal einen Blick zurückwirft, allerdings friedvoll und ohne Wehmut. Der Musiker scheint mit sich im Reinen zu sein.


Selbst die als "Bonus Tracks" zusammengefassten Zugaben für wiederveröffentlichte Alben, darunter beispielsweise ein Trance Remix von "Tiefenschärfe" oder "The Doppelgänger", den Gitarrist John Frusciante als sein Lieblingsstück auserkoren hat, belegen, dass sich der Mann auch damit abgefunden hat, dass seine damaligen neuen Songs eben nicht als Album reüssieren konnten.

Womöglich ist das der Grund, warum das 2004er Werk "Remember (The Great Adventure)" so losgelößt von allen selbstgesteckten Vorgaben scheint. Rother setzt auf tanzbare Beats und erstmalig auf Gesang, beigesteuert unter anderem von Herbert Grönemeyer. Das war so nicht zu erwarten, und doch ist da wieder dieser typische Rother-Sound, der sich auch hier durchsetzt. Die Postkartenidylle ist immer noch erkennbar, der Mann aus Hamburg kann immer noch träumen.


Dieser Stilwechsel versprach also eine weitere Neuausrichtung seiner unikaten Klangvision. In diesem Moment hat es den Mann jedoch aus der Tonkammer gezogen. Der sonst so studioaffine Musiker ging nun vermehrt auf die Bühne, wahlweise mit alten Weggefährten wie Hans Lampe (La Düsseldorf) und international bekannten Künstlern wie Steve Shelley (Sonic Youth).

Es musste erst eine Pandemie in die Welt eintreten, damit der zuletzt scheinbar rastlose Künstler sich wieder auf das Produzieren von Songs fokussieren konnte. Bedingt durch die Lockdownmaßnahmen, war der Mann auch von seiner in Italien lebenden Partnerin entfernt. Diese Melancholie, hervorgerufen durch die erzwungene Isolation, scheint bei dem neuen Album "Dreaming" durch, das sowohl in der Box erhältlich ist, als auch separat erworben werden kann.

Doch so neu ist dieses Werk eigentlich nicht, denn die Melodieskizzen stammen tatsächlich noch aus den "Remember"-Sessions. Auch ätherische Gesangsparts bereichern wieder die Komposition - besonders gelungen und friedvoll bei "Quiet Dancing". Damit knüpft "Dreaming" an den Vorgänger an. Aber nur bis zu einem gewissen Grad.

Vielmehr umfasst dieses Album die sämtlichen Stilverläufe des Musikers, der einmal mehr mit größter Achtsam- wie Lässigkeit seine Songs komponiert. Auch das markante Gitarrenspiel, das Rother für "Remember" in die Mottenkiste gepackt hat, findet hier wieder Verwendung. Reminiszenzen an seine eigenen Karrierestationen mit Harmonia oder Brian Eno sind ebenfalls auszumachen. So ist "Fierce Wind Blowing" nichts weniger als eine in Noten gegossene Demut und Dankbarkeit des Musikers, eine nicht unbedeutende Rolle in der Geschichte der Popmusik zu spielen.

Rother, der am 2. September seine 70. Geburtstag gefeiert hat, bleibt einer der wichtigsten und talentiertesten Musiker, dessen zurückhaltendes, menschenfreundliches Wesen sich auch immer in seiner Musik gespiegelt hat. In "Dreaming" nun läßt er sein ganzes Wissen in die Produktion einfließen. Dass das Album aber nicht wie ein saftloses Alterswerk klingt, liegt wohl auch am Musiker selbst, dem man seine sieben Lebensdekaden nicht ansieht.

In "Dreaming" kristallisiert sich noch einmal Rothers ganzes Können aus. Der Mann hat es geschafft, einen ganz eigene Klangästhetik zu kreieren, die so zeitlos ist, dass sie auch vier Dekaden locker übersteht. Denn schließlich klingen die sanft angeschlagenen Saiten bei "Hey Hey" immer noch so frisch wie zu Zeiten von "Flammende Herzen" und "Katzenmusik".

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 4.9.2020 | KONTAKT | WEITER: THE BEAUTY OF GEMINA "SKELETON DREAMS">

Webseite:
www.michaelrother.de


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COVERS © Grönland Records/Rough Trade

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