THE FAMILY GRAVE "THE FAMILY GRAVE PLAY SONGS ABOUT LOVE" VS. GABRIA "DAY IS DONE": LIEBE UND RUHE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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THE FAMILY GRAVE "THE FAMILY GRAVE PLAY SONGS ABOUT LOVE" VS. GABRIA "DAY IS DONE": LIEBE UND RUHE

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Was für ein pragmatischer und nüchterner Titel. "The Family Grave Play Songs About Love". Isso! Keine großartigen Metaphern, keine blumigen Umschreibungen - einfach mal sagen, was ist. Und doch ist das, was der Mann aus Brighton macht, vielschichtiger, als es die Albumbeschreibung zunächst vermuten lässt. Denn es geht zwar um die Liebe, doch wird das Universalthema bei ihm nicht in das übliche Schema reingepresst.

Zwar gibt es sie, die Liebesballaden wie "Loving Is Easy", die mit entspannten Gitarrenlicks und sanften Synthiegezirpe dem wohl mächtigsten und schönsten Gefühl der Welt huldigt. Aber Liebe kann eben so viel mehr bedeuten: So beginnt das Album mit "The Immigrant" und verhandelt dieses vage Gefühl der Heimatliebe. The Family Grave geht es dabei um die Frage, ob sich auch dieses Gefühl einstellt, wenn man an andere Orte wandert beziehungsweise wandern muss. Damit blickt der Musiker auch auf seine eigenen Erfahrungen, die er gemacht hat, zurück.

Tiefer taucht der Mann mit dem angenehmen Timbre im Song "No Fools" in die Thematik ein. Dieser sei nach Angaben des Künstlers im Februar 2022, also mit Beginn des Ukraine-Kriegs entstanden. Basierend auf Gesprächen mit ukrainischen Frauen über ihre Zukunft entspannt sich in diesem Stück die Frage, ob man seine Heimat verlassen muss oder versucht, zu kämpfen. Wo das Neofolk-Projekt Rome auf ihrem Album "Gates Of Europe" allgemein und auch polemisch den Ukraine-Krieg verhandelt, fokussiert der Brite seinen Blick auf das Einzelschicksal, das dem Hörer die Möglichkeit gibt, allgemeine Lehren daraus zu ziehen.

Ohnehin blickt The Family Graves rein objektiv auf das gesamte Thema. "No Return" handelt beispielsweise vom Leben des Musikers in den 1990ern, als er im Osten Londons mit seiner Partnerin in einer Mietwohnung über die Runden zu kommen versuchte. Zwar singt er mit Nachdruck "I'm not going back", doch die sanft beschwingten Folk-Klänge und entspannten Bläser lassen darauf schließen, dass diese Zeit der ersten Liebe und des Stehens auf eigenen Beinen, so anstrengend es war, auch seinen eigenen Zauber besaß.

Liebe findet sich bei The Family Grave aber auch in Abwesenheit selbiger. "Six O'clock In The Morning" erinnert dabei an den ewigen Vagabunden Tom Waits, nicht musikalisch und auch nicht gesanglich. Jemanden verlasssen, den man liebt, um seine Freiheit nicht einbüßen zu müssen - das hat viel von "Ruby's Arms", allerdings weniger melancholisch.

Am Ende geht es schließlich auch um die Liebe zu sich selbst, wie in "This Is The Day", einem in sanften Tönen eingebettetes carpe diem, das uns einmal mehr daran erinnern soll, dass  wir nur dieses eine Leben haben und wir es jeden Tag wertschätzen sollten. Und das beginnt vor allem damit, gut zu sich zu sein.

Dazu gehört auch, sich dem hektischen Alltag zu entziehen. Ein immer schwierigeres Unterfangen, weil die Welt scheinbar keinen Stillstand mehr duldet. Wissenschaftler sprechen schon seit längerem von FOMO, von "fear of missing out", also der Angst, etwas wichtiges zu verpassen. Deswegen hängen wir am Smartphone wie ein Junkie an der Nadel, unser Stoff sind Newsticker, Likes und Kommentare. Alles geht schnell - viel zu schnell für unser Gehirn, wie TV-Physiker Harald Lesch schon vor Jahren in einem Interview erklärte. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse kann unser Denkorgan nicht verarbeiten.

Es bedarf also bewusster Auszeiten. Musik als Unterstützung zählt als legitimes Mittel. Die Musikerin Christine Rauscher hat sich diesbezüglich etwas besonderes einfallen lassen. Als Gabria kreierte sie mit "Day Is Done" eine Einschlafmusik speziell für Erwachsene. Zwölf Lieder, teils in Deutsch, teils in Englisch, und mit dem plattdeutschen Klassiker "Dat du min Leevsten bist" (unter anderem von Hannes Wader interpretiert) ein besonders schönes Mundart-Volkslied, begleiten einen auf den Weg in die innere Einkehr.

Eingebettet in ein akustisches Instrumentarium mit Hauptaugenmerk auf Piano und Gitarre, strahlen die Stücke eine wohltuende Ruhe aus. Gabria nimmt mit ihrer klaren und sanften Stimme die Hörerinnen und Hörer in den Arm und streichelt sanft über ihre Köpfe. Nur einmal, bei "Bonny At Morn" wird ein zweistimmiger Gesang über einen gleichmäßigen Synthieteppich mit Grillenzirpen gelegt. Auch "Windliedchen" verwendet Naturgeräusche, in diesem Fall Vogelgezwitscher, das von Flöte und Gitarre begleitet wird. In solchen Momenten entrückt uns Gabria der Wirklichkeit und lässt uns für einen Moment wirklich die teilweise grausame Gegenwart vergessen. Und wenn schlussendlich in "This Little Bird" Nur noch Gabria ohne musikalische Begleitung zu hören ist, hat man bisweilen das Gefühl, einem ätherischen Wesen zu lauschen, das nicht von dieser Welt zu sein scheint.

Bereits in unserer letzten Rezension zu ihrem Album "Gesungene Geschichten" von 2022 haben wir Gabria als achtsame Künstlerin bezeichnet. Und wieder geistert dieses Wort im Kopf des Autors dieser Zeilen, als er "Day Is Done" hört: Wenn das Tagwerk verrichtet ist, sollte die Zeit für seelische Streicheleinheiten aufgewendet werden. Die Musikerin aus dem beschaulichen Bamberg liefert dafür die perfekte Untermalung. "Every song filled with pure lust for life", wie es in "Wild Child Lullaby" heißt. Besser kann man es nicht ausdrücken.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 11.10.24 | KONTAKT | WEITER: VARIOUS ARTISTS "DURCHSTRÖMUNGEN 3 - MAGNETSCHWEBEN">

Webseite:
www.gesungene-geschichten.de

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COVER © THE FAMILY GRAVE, PRETTY NOICE RECORDS (GABRIA)

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