ASP "VERFALLEN FOLGE 1: ASTORIA": MENSCHEN IM HOTEL
Überraschend war es schon, als ASP plötzlich verkündete, seinen begonnenen "Fremder"-Zyklus zu Gunsten eines neuen Sujets zu unterbrechen.
Überraschend ist es auch, dass der erste von zwei "Verfallen"-Teilen so ziemlich alle Tugenden und Talente, die ASP ausmachen, perfekt verdichtet und die Gruppe in neuem Glanz erstrahlen lässt.
Aber die Wandelbarkeit der Frankfurter Dunkel-Rocker ist fürderhin bekannt.
Nach Beendigung ihrer fünfteiligen, nicht immer leicht verdaulichen Konzept-Reihe "Der Schwarze Schmetterling" wendeten sie sich erst einmal dem Preußler-Klassiker "Krabat" zu – mit großem Erfolg: Das Doppel-Album "Zaubererbruder" erreichte dank einprägsamer Mitsing-Nummern und schlüssigem Gesamtkonzept Chart-Platzierung Nummer 13.
Dass die deutsche Romanverfilmung (in den Hauptrollen David Kross und Daniel Brühl) relativ zeitgleich in den Lichtspielhäusern der Republik anlief, half sicherlich ein kleines bisschen mit.
"Verfallen" schaffte es laut Band-Homepage sogar auf den siebten Platz der Media Control Charts.
Sind also jene ASP-Alben, die nicht einem größeren gedanklichen Überbau unterliegen, per se die besseren?
Zugegeben, diese Frage ist ein wenig provokant. Allerdings belegt auch "Verfallen" diesen Trend: Die Band scheint befreiter aufzuspielen als zuletzt bei "Fremd" und "Maskenhaft" - beileibe keine schlechten Werke, die uns ASP in den vergangenen Jahren kredenzt haben.
Aber auf der aktuellen Veröffentlichung greifen Liedgut und die als "Zwischentöne" bezeichneten Interludien mehr als flüssig ineinander.
Und am Ende hat man(n) sogar noch die Muße, eine musikalische Verbeugung vor der Fangemeinde zu tätigen: "Fortsetzung folgt" könnte in Zukunft durchaus als universeller, kraftvoller Schlussakkord eines jeden ASP-Konzertes fungieren.
Vorerst dient das Stück aber erst einmal als optimaler "Cliffhager" und besiegelt den ersten Teil einer Geschichte, die nicht nur überraschende Wendungen aufweist, sondern deren gesamte Szenerie auch ein wenig Neuland für das Quintett ist.
Denn an Stelle der schwarz-fantastischen Gothic-Novel-Textur kehrt hier ein relativ nüchterner Realismus beim rockigen Fünfergespann ein: Der Frontmann, sonst Teil seiner Geschichten, wird zum bloßen Erzähler; die Musik zur variablen Untermalung seiner Szenerien.
Da rattert hier ein Schlagzeug, um eine Zugfahrt zu imitieren ("Zwischentöne: Ich nenne mich Paul"), und wird dort ein Tango angestimmt, der die zufällige Begegnung des Protagonisten mit einer Frau im Hotelflur erotisch auflädt ("Zwischentöne: Lift").
Für jede Momentaufnahme findet der Sänger, überwiegend aus der Perspektive des Hauptakteurs berichtend, die richtigen Klänge und Worte, um dessen Zwielichtigkeit aufzuzeigen.
Denn irgendetwas stimmt nicht mit diesem Mann, der in "Mach's gut, Berlin!" mit ASP-typischen Rockakkorden eingeführt wird. "Ein Neuer Name Und Nagelneue Kleidung. Und Beides Trug Ein Andrer Mann Vor Mir, Es Tut Mir Leid."
Nicht zuletzt der mit Gebeinen ausgelegte Heizungskeller auf dem Albumcover lässt erahnen, dass hier das Unheil stetig über der Geschichte kreist.
Doch es wäre zu billig – und irgendwann auch ziemlich langweilig – eine ständige Drohkulisse aufrecht zu erhalten.
Gekonnt nutzt ASP verschiedene Stile, um Paul (seinen eigentlichen Namen erfährt der Hörer nicht) als vielschichtige Person darzustellen. Dieser Mann, der vor dem historischen Berlin kurz nach dem Ersten Weltkrieg Reißaus nimmt, ist kein in jeder Nummer wütend mordender Irrer.
Die sanften Akustikgitarren in "Zwischentöne: Baukörper" zeigen beispielsweise eine weiche Seite, die Paul im Angesicht des Astoria offenlegt, als er aus dem Leipziger Bahnhof tritt.
Fast scheint es so, als würde das Hotel, in dem er bald eine Stellung als Hausmeister ergattern kann, endlich Heimat und Ruhepol für den ewig Rastlosen werden.
Doch diese unkonventionelle Liebe steigert sich langsam zu einer Obsession, ergreift Besitz von seinem Geist. Das Astoria wird zur unnachgiebigen Herrscherin über seine Sinne; ihre Befehle steigen in seiner Vorstellung aus dem Kellergewölbe zu ihm empor.
Spätestens ab dem hörspielartigen "Zwischentöne: Blank" kippt die noch pastellige Stimmung vollends in eine wahnhafte Kulisse, die bei "Dro[eh]nen aus dem rostigen Kellerherzen" in sattes Schwarz eingetaucht wird – natürlich und vor allem auch musikalisch.
Mit dem sensationellen Elfminüter "Loreley", das den Mord an der Edelhure Hannelore in intensiven Bildern beschreibt, rückt die Gruppe sogar an die sprachliche Qualität von Janus heran, die als Band wohl immer schon ihr Wirken beeinflusst haben dürften.
Hier ist sie dann wieder, die ASP'sche Bombastik, die ihre Rock-Nummern um eine filmische Komponente erweitert und Heerscharen von Schwarzkitteln in die Konzerthallen lockt.
Diese werden sicherlich – als die jährlich nach Leipzig prozessierenden Pfingstpilgerer – im leerstehenden Hotelkomplex einen Identifikationspunkt für sich finden.
Und sie werden nach Fortsetzung lechzen, denn klugerweise endet der erste Teil mit der beschriebenen Mordszene.
Sowohl das Sujet, als auch die textlich-klangliche Umsetzung auf "Verfallen Folge 1: Astoria" besitzen ein hohes Niveau bei gleichzeitiger Leichtfüßigkeit. Mit anderen Worten: Chapeau, ASP! Wieder einmal alles richtig gemacht.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 27.11.15 | KONTAKT | WEITER: KOMMENTAR "SCHWARZE SCHALE, HOHLER KERN" - SUCHBILD MIT GRUFTI >
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