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"RAVEL: KONZERT FÜR EINE TAUBE SEELE": PRÄZISE SEHNSUCHT

Zelluloid

RUBRIK: AUF DEM PRÜFSTAND

Ist von Maurice Ravel die Rede, schaltet die Erinnerung den unverwüstlichen “Boléro”-Soundtrack in Sekundenschnelle dazu. Das Stück war sein berühmtestes Werk und begründete bereits zu Lebzeiten den immensen Ruhm des Komponisten. Dabei wurde sein marschierender Walzer zum mechanisch-durchstruktierten Sinnbild der technologisierten Aufbruchsstimmung, die das frühe 20. Jahrhundert erfasste. Sein Donnern hallte noch bis in die Popkultur nach, beeinflusste unter anderem Deep Purple und Frank Zappa. Und das, obwohl Ravel selbst sein Orchesterstück für nicht sehr gelungen hielt. Ohnehin galt der Mann, dessen reichhaltiges Oeuvre musterhaft für den musikalischen Impressionismus steht, als wunderlicher Zeitgenosse, dessen Biografie bis heute Rätsel aufgibt.

Aktuell begibt sich die Pianistin Ragna Schirma auf Spurensuche und versucht gemeinsam mit dem Puppentheater Halle, den "echten" Ravel zu finden. In ruhigen, poetischen Bildern gelingt es ihrem einstündigen "Konzert für eine taube Seele", das eigentlich Unergründliche zu ergründen – und dem Zuschauer einen Komponisten näher zu bringen, der zeitlebens, internationalem Renommee zum Trotz, innerlich vollkommen zerrissen rastlos blieb.

Es ist ein Ausspruch, der die ganze Misere dieses Künstlers beschreibt: "Ich habe noch so viel Musik im Kopf. Ich habe noch nichts gesagt. Ich habe alles zu sagen." Als Ravel dies äußerte, war er jedoch gesundheitlich bereits stark angegriffen. Immer wieder litt er unter Gedächtnisverlust und motorischen Störungen, konnte bisweilen nicht einmal seinen eigenen Namen zu Papier bringen, geschweige denn eine einzige Note. Woran der Komponist am 28. Dezember 1937 letztlich starb, weiß bis heute keiner ganz genau. Wahrscheinlich litt Ravel unter Morbus Pick, einer unheilbaren Hirnerkrankung.

Von der Diskrepanz zwischen der Innen- und Außenwelt des feinsinnigen Künstlers geht es in Schirmas "Konzert für eine taube Seele".

Nur durch
eine transparente Spiegelwand geteilt, finden sich diese beiden Ebenen auf der Bühne konkretisiert: In schlaglichtartig konzentrierten Szenen entfaltet sich Ravels Biografie. Wir sehen den berühmten Komponisten – eine Marionette mit starrem Buster-Keaton-Gesicht, die großen Augen unsicher blickend. Der schmale Mund der Puppe vermittelt Teilnahmslosigkeit. Im Hintergrund sitzt Ragna Schirmer am Klavier; vermittelt dem Zuschauern durch ihr behutsam intensiv tröpfelndes Spiel die Gefühlswelt eines Mannes, dessen Freunde und Bekannte ihn gerne einen "seltenen Vogel" nannten.

Fast teilnahmslos, ja geradezu stoisch lässt der französische Klangmeister den euphorischen Trubel um seine Person über sich ergehen: Der Mann, dessen ganze Leidenschaft der Musik gilt,
kann mit den unzweideutigen Avancen einer Verehrerin nichts anfangen.

Wie ein seltsamer Film läuft sein eigenes Leben vor seinen Augen ab, während er selbst immer nur Zuschauer bleibt. Ein Umstand, den das Ensemble vielleicht ein wenig zu plakativ in die Inszenierung verwebt: In einer Episode wagt sich Ravel ins Kino, um einen Zeichentrickfilm über den Ersten Weltkrieg zu sehen - untermalt von "Alborada del gracioso" aus dem Liederzyklus "Miroirs". Dass die Wahl in dieser Szene ausgerechnet auf diese Liedersammlung fällt: Keine Überraschung. Schließlich führt der Titel doch das "Spiegel"-Thema, das hier auf der Bühne verhandelt wird, konsequent fort.

Zusammen mit den Kompositionen aus "Gaspard de la nuit" legt die einfühlsame Pianistin Ragna Schirmer den Kern ravel'scher Kompositionskunst mit perlender Leichtigkeit offen: Die Klangwerke leben von einer unvergleichlichen Mélange aus mechanischer Präzision und sehnsuchtsvoller Phantasie.

In diesem Momenten wird deutlich: Die traurig-schönen Klanggemälde sind die Essenz des künstlerischen Seelenlebens, dessen Fasern Maurice Ravel mit sicherer Hand in seine Kompositionen gewebt hat.

Seine Liebe zu maschinellen Dingen, bereits seit Kindesalter prägend, sowie sein lebenslanges Faible für Märchen sind in seinem flirrenden Klavierspiel auf ewig verankert und überdauern alle Zeit.

Ravel gelangt hinter den Spiegel, findet Geborgenheit: Während die Pianistin inbrünstig weiterspielt, setzt sich die Puppe auf den Flügel und lauscht mit Ruhe und Bewunderung dem aufwühlenden Spiel. Auch das Filmplakat fängt diesen sensiblen und liebevollen Moment perfekt ein: Es scheint so, als könne diese intensive Liebe durch nichts zerstört werden.

Mitte der 1920er Jahre jedoch beginnt sich der Gesundheitszustand Ravels plötzlich zu verschlechtern. Nach außen hin tut er seine Verzweiflung kund: "Mit mir stimmt etwas nicht", beklagt sich der Komponist in einer Szene bei seinem Bruder Edouard. Die schiere Verzweiflung eines Mannes, der nicht mehr Herr über seine eigenen Körper ist und seinen eigenen Verfall bewusst miterleben muss, wird durch die Handlung hinter dem Spiegel gedoppelt.

Als blau-schwarzer Dämon mit stechend gelben Augen tritt die unbarmherzige Krankheit in die Szenerie, ergreift mit grausamer Plötzlichkeit von seiner Gedankenwelt Besitz – und reißt den sensiblen Ravel aus den Armen seiner Liebe, der Musik. Auch
Ragna Schirmer trägt nun eine fratzenhafte Maske: Nach wie vor klingen die Werke des Künstlers nach, doch Ravel erkennt sie nicht. Der Tritt hinter den Spiegel: Er bleibt ihm verwehrt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Komponist hier längst keine Puppe mehr, sondern wirkt in seinen Leiden und der schier endlosen Hoffnungslosigkeit erschreckend real.

In seiner Not unterzieht sich Ravel schließlich einer Gehirnoperation. Er wird sich nicht mehr davon erholen.

Der letzte, tragische Akt, mit dem der Komponist seine irdische Pein überwinden kann, beginnt: Wie in Shakespeares "Romeo und Julia" vereinigen sich Ravel und seine Musik im erlösenden Jenseits, begleitet vom tröstlichen "Pavane pour une infante défunte".

Ragna Schirmers federleichte Interpretationen erzählen von dem hoch emotionalen Feingefühl Ravels; das Unsagbare, welches er selbst vor seiner Umwelt zeitlebens verborgen hielt.

Im Zusammenspiel mit dem Puppentheater Halle erschließt sich auf diese Weise eine neue Sicht auf Ravel – und macht auch verständlich, warum er seinen "Boléro" despektierlich als "Meisterwerk ohne Musik" definierte. Denn im Vergleich zu seinen Klavierzyklen wirkt das Orchesterstück tatsächlich wie eine profane Übung.

|| TEXT: DANIEL DRESSLER / DATUM: 26.10.2014 | KONTAKT | WEITER: SOPOR AETERNUS "MITTERNACHT"  >





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EXTRAS
Interviews
LÄNGE
ca. 63 Minuten
SPRACHEN
Deutsch, Englisch, Französisch
FSK
Ab 6 Jahren


Websites
www.ragna-schirmer.de

buehnen-halle.de/puppentheater


BILDQUELLE © BELVEDERE.

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