WOODKID "S16" VS. DIORAMA "TINY MISSING FRAGMENTS": AUF ZU NEUEN KLANGUFERN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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WOODKID "S16" VS. DIORAMA "TINY MISSING FRAGMENTS": AUF ZU NEUEN KLANGUFERN

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Auf einmal kam kaum ein Fernsehbeitrag nicht mehr ohne "Run Boy, Run" als Untermalung aus. Als ob sie auf diesen einen Song förmlich gewartet hätten. Und tatsächlich vereinte dieses Stück Soundtrack-Atmosphäre mit Dance-Rhythmen und Art-Pop-Manierismen. Zu verantworten hatte das Woodkid, der eigentlich Yoann Lemoine heißt und sich vor allem durch seine Regiearbeiten von Musikvideos unter anderem für Popgrößen wie Lana Del Rey und Katy Perry einen Namen machte.

Dass sich Künstler gerne in anderen Bereichen versuchen ist das eine. Dass sie aber aus dem Stand eines der bahnbrechendsten Alben des letzten Jahrzehnts geschaffen haben, kann man so eigentlich nicht erwarten. Doch "The Golden Age", eine wuchtig-wagnerianische Liebeserklärung an die Adoleszenz, wirft das allgemeine Popverständnis völlig hinten über. Breitwandige Orchestersätze, archaische Trommeln, sich verschränkende Elektronik und Lemoines zerbrechliche Stimme, die entfernt an Antony Hegarty alias Antony & The Johnsons alias Ahnoni erinnert, sind die Zutaten für den grandiosen, epischen Soundtrack eines Filmes, der erst noch erschaffen werden musste (und durch die entsprechenden Musik-Clips wenigstens in Kurzform tatsächlich auch realisiert wurde).

Das war 2013. Jetzt, sieben Jahre später, legt Woodkid mit "S16" den fast schon nicht mehr für möglich gehaltenen Nachfolger vor. Die Angst des Rezensenten vor den ersten Tönen dieser neuen Scheibe war groß. Denn was um alles in der Welt sollte nach "The Golden Age", das so dermaßen perfekt und in sich stimmig war, noch kommen?

Woodkid hat sich diese Frage vielleicht auch gestellt. Und er hat das wohl beste getan, was er in dieser Situation hätte tun können: Er setzt komplett neu an. Nicht in seiner Musik, denn sein Faible für das große Orchester hat er beibehalten. Aber in seiner Grundausrichtung, die nun weitaus introvertierter ist und ein bisher offensichtleres Spiel mit unterschiedlichen Dynamiken offenbart.

Doch noch wähnt er mit dem perkussiven und extrem elektronischen "Goliath" zu Beginn den Hörer in eine vertraute Komfortzone, die er aber mit jedem weiteren Stück mehr verlässt und sich gegen Ende mit "Horizons Into Battleground" in eine sanfte, ungewohnt intime Ballade gießt. Ganz wie das Cover will auch dieses Lied einen umarmen - in Zeiten von "social distancing" fast schon aufrührerisch.

"S16" ist das Zeichen und die Ordnungszahl des Elements Schwefel im Periodensystem. Für Woodkid jedoch besitzt dieser Stoff eine tiefere Sinnebene. Schwefel ist Leben und Tod gleichzeitig und unverzichtbar auf unserem Planeten, den wir im Begriff sind, unwiederbringlich zu zerstören, wie das Musikvideo von "Goliath" zeigt und bestimmt nicht von Ungefähr auch entfernt an den Experimental-Film "Koyaanisqatsi" von Godfrey Reggio erinnert, musikalisch untermalt vom unvergleichelichen Philip Glass.

Auch Woodkid will die Welt im Dilemma zwischen unbarmherziger Industrialisierung und tiefer (Mit)menschlichkeit in seinen Kompositionen aufzeigen. So wird "S16" auch zu einer Meditation über unser egozentrisches Verhalten, das letzten Endes uns und unseren Nachkommen schadet. Selten hat der Zusammenbruch jedoch so schön geklungen.

Das Gefühl (innerer) Auflösungszustände gehört seit jeher zum Kernthema von Diorama. Das hat sie quasi automatisch zum Teil der schwarzen Wave-Gesellschaft gemacht. Doch sind sie schon immer eine Spur sophistischer und verkopfter im positiven Sinn gewesen als ihre Musikerkollegen. Schon das Debüt "Pale", das Sänger Torben Wendt damals noch im Alleingang geschrieben hat, ließ erahnen, dass seine Ideen viel größer waren, als es der romantisch-melancholische Klang seines Erstlings zu fassen vermochte.

Erst der Neuzugang Felix Marc, der mittlerweile selbst zum Synthie-Pop-Schwergewicht geworden ist und sowohl bei Frozen Plasma, als auch solo Erfolge feiert, drückte Diorama in die entsprechende Richtung. Seine Mitarbeit hat das dritte Album "The Art Of Creating Confusing Spirits" von 2002 maßgeblich beeinflusst und bildete den Grundstein für den bandtypischen Klang, der sich aus gefälliger Melodieführung und vertrackter Elektronik speist, abgerundet vom markanten Organ Torbens.

Dabei geht das seit dieser Zeit zum Quartett aufgestockte Projekt immer den Weg des größten Widerstands, sucht nach neuen, ungehörten Klängen und tiefergehenden Songstrukturen. Sie scheren sich nicht unbedingt um die Gunst der Fans, die sich beispielsweise bei Alben wie "A Different Life" (2007) oder jüngst dem Vorgänger "Zero Soldier Army" von vor vier Jahren damit abfinden mussten, dass Diorama ihr eigenes Wave-Süppchen kochte und den Avantgardekochlöffel schwingen.

Dagegen scheinen so perfekt eingängige Alben wie "Cubed", das immer noch zu einem ihrer Glanzpunkte gehört, wie ein Zugeständnis an alle, die ein größeres Pop-Potenzial in Diorama vermuten. Album Nummer zehn nun, namentlich "Tiny Missing Fragments", schafft es, jene wieder abzuholen, die sich bei "Zero Soldier Army" etwas alleine gelassen gefühlt haben. Das erneut andere Mischungsverhältnis zwischen üppig und progressiv ausgerichteten Arrangements und eingängiger Melodieführung wird gleich erfolgreich am Opener "Avatars" durchdekliniert: Aus einer nervös umherschleichenden Strophe erwächst ein herrlich melancholischer, fast schon erlösender Refrain, der auch den Geist alter Diorama-Werke eingedenkt.


Gerade die erste Hälfte des Albums besitzt eine Menge großer Nummern, die in den Düster-Clubs - so sie denn mal wieder geöffnet werden - die Tanzfläche zum Bersten bringen werden. "Patchwork" ist dabei der kantige Schunkler, "Gasoline" die geradlinige Nummer Sicher, die aber allein schon wegen der Titelzeile mit zu den besten Songs der Jungs gehört: "You Gasoline, I Turpentine". Sprachlich so rudimentär wie "Ich Tarzan, du Jane!", aber von großer symbolischer Tiefe durchzogen, angereichert mit herrlichen Synthiespielereien.

Mit jedem weiteren Stück geht "Tiny Missing Fragments" den Weg in die Innerlichkeit, während sich das musikalische Moment wie ein tosender Sturm aufbaut. Pathetisch aufgepeitscht gibt sich beispielsweise "Irreversible", geradezu aufgekrazt ist "Charles De Gaulle" (das wohl nur indirekt  vom französischen Staatsmann handelt), und auch "Iisland"wirkt fordernd, geradezu schmerzhaft intensivin seinem Arrangement.

Erst "The Minimum" gleitet mit sanft angeschlagenen Gitarrenriffs langsam in die Entspannungsphase, ehe "Orbitalia" mit psychedelischer Einleitung, perlendem Arpeggio und an Eric Satie und Frédéric Chopin angelehnte Klavierträumereien im Mittelteil des Songs das aufgewühlte Gemüt endgültig zu beruhigen versucht. In diesem Moment blitzt auch Torbens klassische Klavierausbildung auf, die besonders noch bei seinen frühen Werken zum Tragen kam.

In diesen Momenten treffen wir auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Ausnahme-Band, deren Musik ein weiteres Mal berührt, vrzaubert unf auch ein bisschen verstört. Ihre neuen Songs sind fürwahr die "Tiny Missing Fragments", die das Bild von Diorama vervollständigen.

Woodkid und Diorama haben die Grenzen des Unerhörten neu gesteckt und eine innovative Reise zu neuen Klangufern angetreten. Gewiss nicht immer leicht verdaulich, aber auch nicht bar jeglichen Hörverständnisses. Dies garantiert konstant spannende Unterhaltung, weil beide Werke auch beim x-ten Durchlauf neue Facetten preisgeben, die zuvor noch verborgen geblieben sind.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 09.11.20 | KONTAKT | WEITER: REAL VS. CREATING.PARADISE>

Website
www.woodkid.com
www.diorama-music.com


COVER © ISLAND/UNIVERSAL MUSIC (WOODKID), ACCESSION/INDIGO (DIORAMA)

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