MUSIKJOURNALISMUS: UNRUHIGE ÜBERLEGUNGEN IN EIGENER SACHE
Das Ende des Musikjournalismus könnte man folgendermaßen inszenieren: Ein Mann sitzt im Kämmerlein zu später Stunde am Schreibtisch und hackt abschließende Worte seines letzten Artikels, womöglich eine Chronik über eine für die Pophistorie ungemein wichtige Band wie Kraftwerk, Nirvana oder den Beatles, in seinen Laptop. Die Rotweinflasche zu seiner Linken ist bereits zu drei Vierteln leer, im Hintergrund läuft Skeeter Davis' Depri-Country-Nummer "The End Of The World" in Endlosschleife. Der Mann begutachtet sein Werk, nimmt noch einen letzten Schluck, dann speichert er den Artikel ab, fährt den Computer herunter, klappt den Monitor zu, sackt in sich zusammen und lässt seinen Tränen nunmehr freien Lauf.
Zugegeben steckt jede Menge "Drama, Baby!" in dieser Szenerie. Im Grunde jedoch fürchten alle Musikkritiker genau diesen Moment: Sie schreiben eigentlich für die Tonne; ihr Wort hat kein Gewicht mehr. Mittlerweile sind solche Ängste nicht mehr unberechtigt angesichts der tragisch zu nennenden Entwicklungen auf dem Musikzeitschriftenmarkt. "The year the Musik-Journalismus died", titelte beispielsweise Arne Löffel seinen Artikel für die Frankfurter Rundschau in Anlehnung an eine Textzeile aus Don McLeans "American Pie". Sicherlich arg pathetisch, vom Gefühl her aber die passenden Worte für das, was momentan passiert.
Gleich vier honorige Musik-Magazine haben als Printversion das Zeitliche gesegnet: Spex, NME, Groove und Intro. Vier Zeitschriften, die durch qualitativ hochwertige Beiträge bestachen und über die bloße Beschreibung der Musik hinaus den philosophisch-gesellschaftspolitischen Kontext eröffneten und geradezu kulturelle Studien anfertigten. Allein, es hat nichts genützt. Für letztgenannte Gazette war der Weg der Vergänglichkeit schon fast immanent. Als kostenloses Blättchen, das in Diskotheken, Cafés und anderen Orten des öffentlichen kulturellen Lebens ausgelegt wurde, lebte die Intro ausschließlich von den Werbeeinnahmen. Diese allerdings gingen im Laufe der Jahre zurück, da viele ehemalige Werbekunden den Blick auf das weltweite Netz richteten - eine Entwicklung, die aber nicht erst seit gestern begonnen, sondern schon vor über zehn Jahren Fahrt aufgenommen hat.
Doch sinkende Reklamegelder und wegfallende Leserschaften sind nur ein kleiner Teil des langsamen Dahinsiechens des Musikjournalismus. Vielmehr haben sich die Vorzeichen geändert, unter denen die Menschen Musik hören. Lange Zeit konnte man Klängen nur über die stationäre Stereoanlage lauschen, in den 80ern und 90ern wurde Musik dank Walk- und Discman mobiler; es benötigte allerdings immer noch einen Tonträger mit begrenzter Laufzeit. Erst die (im übrigen deutsche) Erfindung des Audiodateiformates mp3 revolutionierte das Hören. Nun konnte jeder nahezu unbegrenzt Musik an allen Orten abzuspielen.
Bereits vor zwei Jahren haben wir in einem Artikel zur Lage der Popmusik Ben Ratliffs Idee des "curational me" aufgegriffen, den er in seinem Buch "Every Song Ever" definierte. Demnach führt die allgemeine Verfügbarkeit von Musik dazu, dass der Hörer unmittelbar sich selbst kuratiert. Sprich: Aus der Vielzahl der digitalen Angebote steht es ihm frei, seine Lieblingslieder auszusuchen. Die Instanz des Musikjournalisten, der ehemals darüber entschied, welche Bands und Musiker(innen) erwähnenswert und relevant seien, wird einfach umgangen. Der Einzug der sozialen Medien führte überdies dazu, dass Bands in unmittelbarem Kontakt zu den Fans stehen, ihnen Vorabauszüge aus den Alben präsentieren können und Einblicke beispielsweise in das Stuio- oder Tourleben gewähren. Auch dieser Informationsvorsprung war früher allein den Schreibern vorbehalten.
Grundlegend eine zu befürwortende Entwicklung, denn sie demokratisiert die Musik in erheblichem Maße und gibt einigen kleinen Bands die Möglichkeit, eine größere Hörerschaft durch digitale Selbstvermarktung zu generieren. Doch ist es wie in der Politik: Was nützen Freiheit und Demokratie, wenn Sie nicht sinnvoll genutzt werden können? Anstatt sich der nun vorherrschenden Vielfalt bewusst zu werden, scheint die Musik zu einem kulturellen Fast-Food-Produkt zu verkommen, zu einem Wegwerfartikel, den es schnell zu konsumieren gilt.
Das ist nicht die Meinung eines beleidigten Musikjournalisten, sondern eine amtliche Studie der Universität Ohio (https://www.eurekalert.org/pub_releases/2017-04/osu-hms040417.php). Hubert Leveillé Gauvin hat erfolgreiche Popsongs aus rund 30 Jahren auf ihre Struktur hin überprüft. Auffällig sei, dass die aktuellen Nummer-Eins-Hits nicht nur kürzere Songtitel aufweisen, sondern auch ohne oder nurmehr kurze musikalische Einleitunng beginnen. Gauvin führt das auf die Möglichkeit zurück, dass Lieder heutzutage einfach weggeskipt werden können, wenn sie nicht sofort beim Hörer ankommen. Das führe aber auch zu einer verminderten Aufmerksamkeitsspanne beim Rezipienten. Die Entwicklung geht sogar bereits soweit, dass das Veröffentlichungsformat des Albums in Frage gestellt. Zumindest melden sich immer wieder einige Musiker und Wissenschaftler zu Wort, die der Langspielplatte einen schleichenden Tod prophezeihen, da sich der Fokus immer stärker auf den einzelnen Song richtet.
Festzuhalten bleibt: Die Musik hat sich aus den Tonträgergeschäften ins Internet verlagert. Etwaige Umsatzsteigerungen der Vinyl-Verkäufe, die gerne als Gegenargument ins Feld gebracht werden, sind nicht haltbar, da die Rückkehr der Langspielplatte nicht breitenwirksam ist, sondern nur den Fetisch einiger Musiknerds und Klangconnaisseure befriedigt, die zudem auch gewillt sind, fast das doppelte für die gleiche Menge Musik auszugeben.
Die schreibende Zunft indes hat den distributiven Wandel, ähnlich wie die Musikindustrie, ordentlich verschlafen. Nun hinkt sie hinterher. Ein Umstand, den auch Musikexpress-Chefredakteur Albert Koch in einem Artikel - durchaus selbstkritisch - beklagt, indem er darin Spex-Boss Daniel Gerhardt zitiert: "Keine Website einer deutschsprachigen Musikzeitschrift erreicht das Niveau ihrer Printausgabe, oder möchte es erreichen."
Zudem füllen nun Privatpersonen mit ihren nicht vorhandenen journalistischen Kenntnissen die feuilletonistische Lücke in der digitalen Welt aus. Der Kritiker wird durch Blogger und Influencer zurückgedrängt. Der neutral-beobachtende Journalist, der kulturelle Zusammenhänge aufzeigen und im besten Fall philosophische wie gesellschaftspolitische Gedanken darbringt, weicht einem egozentrischen Netzwerker, der sein Erleben in den Mittelpunkt stellt, sich selbst bei einem Festival filmt oder die Vorbereitungen für einen Konzertbesuch thematisiert. Die Musik, respektive die Musizierenden verkommen zum geeigneten Vehikel der eigenen Eitelkeiten, zum wohlfeilen Rauschen im Schatten subjektbezogener Inszenierung.
Zusätzlichen Antrieb erhält diese Entwicklung durch die immer noch vorherrschende Gratiskultur des Internets, was eine bezahlte journalistische Tätigkeit nahezu unmöglich macht. Nur die wenigsten Magazine schalten ihren Content erst durch entsprechende Gebühr frei. Demzufolge fehlt das Budget, um qualifizierte Schreiber anzuheuern. Abgesehen von den oben bereits erwähnten digitalen Ablegern absatzfester Printmedien wie Rolling Stone und dergleichen, können wohl die wenigsten Online-Magazin-Betreiber durch Werbeeinnahmen den Stab bezahlter Redakteure ausbauen. Manche wollen das vielleicht auch gar nicht.
Bei all der Schwarzseherei bleibt aber festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit Kunst im öffentlichen Raum erst dem Objekt seine Bedeutung verleiht. Oder um abermals Albert Kochs Artikel heranzuziehen: "Das (...) Zitat, über Musik zu schreiben wäre wie über Architektur zu tanzen, ist von einer seltenen Dämlichkeit. Wäre es wahr, würde sich auch jegliche Diskussion über Film, bildende Kunst, Fotografie und Mode verbieten." Letzten Endes, und das ist aus persönlicher Erfahrung, sind es die Musiker selbst, die natürlich möchten, dass man sich mit ihrem Werk kritisch auseinandersetzt. Denn das verleiht ihrem Schaffen tieferen Sinn und gibt ihrer Musik einen Mehrwert, der über die reine harmonische Schallabsorbierung hinausgeht.
Es war aber auch Gerhardt selbst, der in einem Editorial über das Ende von Spex geschrieben hat, dass der Pop-Journalist seine Gatekeeper-Funktion eingebüßt hat. Dieser Aussage möchte man doch widersprechen. Denn die unüberschaubare Menge an Musik auf Spotify, Bandcamp und ähnlichen Musikplattformen verlangt mehr denn je nach fachkundiger (Ein)Ordnung. So nutzt beispielsweise Ecki Stieg für seine wiederbelebte Radio-Sendung "Grenzwellen" die unendlichen Möglichkeiten der Streaming-Dienste für sich, betreibt aber gleichzeitig eine für den Hörer perfekt abgestimmte Selektion seiner Entdeckungen in Form digitaler Sampler mit einer mehrstündigen Spielzeit. Ein gutes Beispiel dafür, wie der Wandel von klassischem zu einem neuen, die Digitalität berücksichtigenden Musikjournalismus funktionieren kann.
Die Zeiten ändern sich, und mit ihnen auch die Rezeption von Kunst. Am Ende jedoch bleibt die Musik immer noch ein Spiegel der Gesellschaft. Neben den harten Fakten über Veröffentlichungstermine und klanglicher Beschreibung eines Albums, das man in kurzen Rezensionen dem Leser an die Hand reichen kann, bleibt die wichtigste Frage des Musikjournalisten, warum der Musiker ausgerechnet jenes Album zu jener Zeit gemacht hat. Das kritische Gespräch mit den Kunstschaffenden offenbart dabei mehr Informationen, als es eine von der Band selbst zusammengeschusterte Story auf ihrer Homepage jemals zu schaffen vermag.
Solche Artikel, seien es nun Interviews, Reportagen oder einfach nur Kritiken, erfordern aber, wenn sie gut und gehaltvoll werden sollen, Zeit für Recherche, Überlegungen und sprachlicher Ausformung. Letzteres scheint allerdings am wenigsten Aufmerksamkeit seitens der Schreiber zu erhalten. Zumindest lassen die teilweise haarsträubenden Rechtschreib- und Grammatikfehler, die mit einer fast schon penetranten Vehemenz auf einigen Seiten auftauchen, den Schluss zu, dass die Betreiber ihrer Magazine oder Blogs entweder nicht über das linguistische Rüstzeug verfügen, oder sich tatsächlich nicht die Zeit dafür nehmen, ihre verfassten Werke einem Korrekturlesen zu unterziehen.
Schlussendlich muss aber auch den so genannnten Usern, die tagtäglich auf solche Contents zurückgreifen, endlich bewusst werden: Eine Webseite kostet nicht nur Zeit, sonern auch Geld. Das System einer freiwilligen Spende funktioniert leider nicht. Vor einem Bezahlsystem für die Artikel schrecken viele noch zurück. Es wäre aber gleich in mehrerer Hinsicht eine sinnvolle Handlung. Schließlich bedeutet das für die schreibende Zunft einen (wenn auch immer noch geringen) monetären Ausgleich für ihre Arbeit, verpflichtet sie aber auch zu guten Artikeln oder exklusiven Berichterstattungen, die solche Bezahlugen rechtfertigen. Der Leser indes hat immer noch die freie Entscheidung darüber, ob er dafür Geld ausgeben will oder nicht, kann sich aber dann auch sicher sein, eine entsprechende Leistung zu bekommen, die es in anderen Medien nicht zu finden gibt.
2018 wird als sicherlich schwärzestes Jahr in die Annalen des Musikjournalismus eingehen, aber gleichzeitig auch eine Zeitenwende markieren, in der sich neue Wege der kritischen Auseinandersetzung mit Musik ausformen, die über kurz oder lang den Musikjournalisten und -kritiker sicher nicht ganz von der Bühne verschwinden lassen. Es benötigt nur eine Weile, bis beide Seiten - Journalisten auf der einen und Leser/Hörer auf der anderen - ihr Verhältnis zueinander neu definiert haben.
Und die klassischen Musikmagazine? Sie weden überleben, wie auch die bereits totgesagte Schallplatte überlebt hat. Vielleicht besitzen sie nicht mehr diese Relevanz, aber sie können sich einen kleinen erlauchten Leserkreis erhalten, der es immer noch vorzieht, in gebundenen Ausgaben zu schmökern, als auf einen flackernden Monitor zu starren.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 19.03.2019 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 3/19>
Foto © UNTER.TON/Daniel Dreßler
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