ASSASSUN "RETROFATE" VS. THALIE NÉMÉSIS "CATARSI APOTROPAICA": SOUND OF ZEITENWENDE - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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ASSASSUN "RETROFATE" VS. THALIE NÉMÉSIS "CATARSI APOTROPAICA": SOUND OF ZEITENWENDE

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Eigentlich ist es schon fast langweilig. Alexander Leonard Donat hat wieder ein neues Album herausgebracht. Und es wieder einmal grandios geworden. Während er als Vlimmer einen dekonstruierten Post-Punk zelebriert, der Seelenzustände metaphorisch überhöht, als Fir Cone Children im punkigen Indie-Rock das Heranwachsen seiner beiden Töchter dokumentiert und mit Whole (zusammen mit Forced-To-Mode-Mann Thomas Schernikau) den Synthie-Pop neu durchdekliniert, lässt er nun wieder mal als Assassun die Maschinen schwitzen und seiner dunklen Seite freien Lauf.

Es ist das bereits vierte Album in vier Jahren unter diesem Alias. Da er besonders bei diesem Projekt seine Sicht auf die weltlichen Dinge richtet, ist es vielleicht gar nicht so verwunderlich, dass die Schlagzahl der Assassuns-Veröffentlichungen so hoch ist: Stoff ist genug vorhanden! Begonnen in den Nachwehen der Pandemie, blickt der Musiker auf die Kaputtheit dieser Welt, die besonders in diesem Jahrzehnt so rasend schnell sich vergrößert. Deswegen wirkt die Elektronik auf "Retrofate" noch zerklüfteter und die Songs strukturloser. Sie spiegeln die Orientierungslosigkeit unserer globalen Gesellschaft, eingepfercht zwischen Zukunftsangst, Falschinformationen, digitaler Abhängigkeit und faschistoider, machtgeiler Politik, deutlich wider.

Deutlich wird dies beim Song "Past/I N B E T W E E N/Future" - nicht nur durch die plakative Schreibweise des Titels. Gegenwart als nicht existentielles Gebilde zwischen Vergangenheit und Zukunft kann ergo nicht wahrgenommen und erlebt werden. Ein profanes, aber deutliches Beispiel für diese These: Wer schafft es, ein Konzert zu genießen, ohne das Smartphone zu zücken, um den Augenblick in Bild und Ton festzuhalten? Doch verhindert nicht gerade diese Aktion - der Blick durch den wenige Zoll großen Monitor - den Moment intensiv zu erleben?

Die eigentlichen Probleme sind aber andere: Wir leben ein Leben der Widersprüche. Wir sind mit der Welt vernetzt, doch geraten zunehmend in Isolation. Wir suchen nach Frieden, während auf politischer Ebene permanenter Konfrontationskurs gefahren wird. Und uns werden scheinbar unendliche Möglichkeiten vorgegaukelt, aber am Ende sind wir in unserer Freiheit limitierter denn je. Daraus erwachsen Songs wie "The Sons Of The United Plague", "D.E.A.T.H." oder "Poisonalan", die schnell, kantig und bewusst hoffnungslos klingen, während Alexander seine eigentlich anschmiegsame Stimme ablegt und zu einem gehetzten Chronisten wird, der im atemlosen, fiebrigen Sprechgesang mehr proklamiert, als dass er erzählt.

Mit zum Teil surrealistischen Texten wie in "At The Kiwi Crates" baut der Musiker "Retrofate" zu einem dystopischen Soundmonstrum auf, bei dem die Hoffnung auf eine Besserung in unserer Gesellschaft kaum mehr aufrecht zu erhalten ist. So verspricht auch das abschließende "Concrete Of Time" mit seinen deutlich ruhigeren Strukturen keine Versöhnung, sondern ist nur noch Abbild eines Erschöpfungszustandes nach all dem vorangegangenen Furor.

Kompromisslos setzt Alexander Leonard Donat als Assassun den Puls der Zeit in ein zerfahrenes Synth-Punk-Album um. Oder um die Presseinfo zu zitieren: "Ruhelos, verdichtet, zerrissen – ein Album, das keine Auflösung bietet, sondern den permanenten Ausnahmezustand unserer Zeit spiegelt."

Doch was tun, wenn man sich an diesem Abwärtskarussell nicht mehr teilnehmen möchte? Wie lässt sich diese unerträgliche Situation noch bewältigen? Vielleicht durch seelischen Selbstschutz? Jedenfalls verfährt die französische Sängerin Thalie Némésis auf "Catarsi Apotropaica" nach diesem Prinzip. Der Titel ihrer aktuellen EP könnte man frei als "Unheil abwehrende Reinigung" bezeichnen. Die Musikerin, die sich intensiv mit griechischer Mythologie beschäftigt (was bereits ihr Künstlername nahelegt), verfrachtet die antike Idee eines Schutzes vor dem Bösen durch apotropäische Handlungen in ihre Musik.

Bei Thalie Némésis sind es die Songs und ihre Texte, die wie Schutzschilde gegen alles Negative wirken soll. Eine rumorende Mischung aus Elektronik, Rock und nahöstlichen Klangelementen verleihen den Nummern eine mysteriöse, purpurn schimmernde Aura, an dem sich das Individuum mit neuer Energie aufladen kann.

Bereits "A Barbaric Language" gleicht einem Fluch: "I will silence you, I will erase you, I will reduce you to nothing more than a language without sound". Zwar beziehen sich die Songs stark auf die vom Rest der Welt vergessenen Grausamkeiten im zweiten Bergkarabach-Krieg in Armenien (der mitten in der Pandemie 2020 begann und als "44-Tage-Krieg" in die Geschichtsbücher eingehen sollte), die Allgemeingültigkeit ihrer Lieder lassen sich aber auch auf unsere derzeitige Lebenssituation projizieren.

So liest sich "Acedia Is My Partner In Crime" wie ein Abgesang auf eine saturierte Gesellschaft, die sich in immer extremere Situationen begibt, um ihre Existenz mit Leben zu füllen ("Acedia" ist in der christlichen Lehre die "Trägheit", eine der sieben Todsünden). Ebenso ist "No Surrender" eine Kampfansage, sich nicht unterkriegen zu lassen und die Herausforderungen anzunehmen.

"Catarsi Apotropaica" will in erster Linie natürlich unterhalten, aber dabei auch den Blick auf unsere Situation schärfen. In energiegeladenen, aber gleichsam seelenvollen fünf Songs beschönigt Thalie Némésis nichts, macht aber auch Hoffnung, dass alles überwunden werden kann. Ihre Lieder sind spirituelle Energiequellen, in denen sich das Licht durch die Dunkelheit bricht.

Es ist eine steile These, aber sicherlich wären "Retrofate" von Assassun und Thalie Némésis' "Catarsi Apotropaica" nicht so deutlich in ihrer Dringlichkeit ausgefallen, wenn die Welt eine andere, bessere wäre. "Retrofate" hätte vielleicht eine spielerisch-anarchische Note erhalten, "Catarsi Apotropaica" wäre womöglich einfach ein sehr durchgestyltes Dunkelwerk geworden. So allerdings sind sie Abbilder einer Welt inmitten der viel beschworenen Zeitenwende.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 17.10.25 | KONTAKT | WEITER: MEMORY INDEX VS. YNNERSPEAKER VS. PILOD>

Webseite:
blackjackilluministrecords.bandcamp.com

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Cover © Blackjack Illuminist Records (Assassun), Transmission Nova (Thalie Némésis)

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