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TOYAH "THE BLUE MEANING EXPANDED": DER OFFIZIELLE ANFANG VON ETWAS AUSSERGEWÖHNLICHEM

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Sicherlich neigt man zur überhöhten Romantisierung, wenn man die späten 1970er als eine Zeit beschreibt, die nicht nur künstlerische Freiheit propagierte, sondern auch die Frage nach männlichen und weiblichen Rollenverständnissen über den Haufen warf. De facto herrschte in dieser Zeit, zumindest im Westen der Bundesrepublik, in weiten Teilen der Gesellschaft nämlich immer noch die verstaubte Vorstellung vom Mann als Familienoberhaupt und -versorger, während die Frau mit der Aufzucht des Nachwuchs und der Organisation des Haushalts bedacht wurde.

Allerdings hatte sich in den subkulturellen Strömungen einiges geändert. Punk war seit Beginn keine reine Männerdomäne. Viele Frauen, wie in Deutschland beispielsweise die Neonbabies (mit den Humpe-Schwestern), Östro 430 oder Nina Hagen, setzten sich mit spezifisch weiblichen Themen auseinander, prangerten überholte Klischees an und waren alles andere als adrett oder manierlich und damit der komplette Gegenentwurf zu Schlager-Sauberfrauen wie Marianne Rosenberg und Konsorten.

Für Toyah Ann Willcox, Jahrgang 1958 und aus Birmingham stammend, kam diese Aufbruchszeit gerade recht. Denn die Akzeptanz starker Frauen mit hohem künstlerischen Anspruch ohne Garantie auf Gefälligkeit erleichterte ihr, die mit nicht mal 20 Jahren und schlicht als Toyah ihre Musikkarriere begann, den Einstieg. Ihre farbenfrohen, exaltierten Outfits sowie die kunstvollen Frisuren machten sie, wie ihre Kolleginnen Lene Lovich und Siouxsie Sioux auch, zu einem New-Wave-Gesamtkunstwerk.

Tatsächlich begann alles mit dem Film "Jubilee", wo sie an der Seite eines anderenn Paradiesvogels, Adam Ant, reüssierte. Ihre markante Stimme, die mindestens genauso überschlagsfähig wie jene Nina Hagens ist, ließ die Szene schnell aufhorchen. Mit ihrer EP "Sheep Farming In Barnet", das in der Folge auf ein Album aufgeblasen wurde, setzte die Britin eine erste Duftmarke.

Deswegen ist man sich bis heute nicht ganz einig, ob man "The Blue Meaning" als ihr Debüt bezeichnen sollte oder nicht. Spielt aber letztendlich auch nicht die gewichtige Rolle. Denn frei nach einem alten Fußballtrainerspruch: "Entscheidend ist auf der Platte!". In dieser Beziehung nimmt Toyah keine Gefangenen und wandert wie wild zwischen allen Genres, beginnt extrem elektronisch im Opener "Ieya", singt auf "Spaced Walking" mit Helium in der Stimme (man kann sogar bei der Aufnahme hören, wie sie zwischen den Strophen das Gas inhaliert), wechselt bei "Vision" in die psychedelische Abteilung und zeigt sich in "She" außerordentlich gruftig.

Stets im Mittelpunkt der Songs steht Toyahs ausladendes Organ, das zwischen naiv-infantilem Gekieckse, wuchtiger, fast schon opernhafter Tiefe und unterkühltem, distanzierten Duktus umherspringt und dabei immer glaubwürdig bleibt. In der nun erschienenen Extended-Version (inklusive zweiter CD und DVD mit Interview mit der Künstlerin zur Entstehung des Albums) wird man auch Zeuge, dass die Frau nicht nur im Studio, sondern auch auf der Bühne eine stimmliche Naturgewalt ist. Der Livemitschnitt im ICA London - "Love Me", "Waiting" und "Ieya" gab die Band dort zum Besten - zeigt Toyah in blendender Form.

Ohnehin haben sich Cherry Red in der Ausstaffierung dieser Wiederveröffentlichung erneut ins Zeug gelegt und ein umfassendes Beiwerk, bestehend aus bisher unveröffentlichten Demos (wundervoll: "Angels & Demons"), Instrumentalen, Versatzstücken (vor allem die reine Gesangsspur von "Spaced Walking" lässt einen schmunzeln) und alternativen Versionen der Albumsongs herangekarrt, von denen vor allem ihr großer Hit "It's A Mystery" in einer frühen Version zu den großen Höhepunkten gezählt werden darf.

Abgerundet wird dieses Re-Issue durch ein ausführliches Booklet mit vielen Bandfotos und Hintergrundinformationen zur Entstehung von "The Blue Meaning". All die zusammengetragenen Einzelkomponenten ergeben ein Bild großer Harmonie und purer Freude, die Toyah wahrscheinlich gehabt haben muss, als sie "The Blue Meaning" realisierte. Und es war der Beginn einer zwar kurzen, aber erfolgreichen Karriere als Sängerin. Später verdingte sie sich zusehends im Schauspiel. Bei so viel künstlerischer Energie mag man ihr verzeihen, dass sie 2003 bei der zweiten Staffel des englischen "Dschungelcamps" teilgenommen hat.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 08.06.21 | KONTAKT | WEITER: VARIOUS ARTISTS "GRENZWELLEN NEUN" VS. VARIOUS ARTISTS "NIGHT VIBES 2">

Webseite:
www.toyahwillcox.com

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Cover ©  Cherry Red

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