VNV NATION "ELECTRIC SUN": IN DIE EMOTION GESTÜRZT
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Bildreiche Adjektive und feingeschliffene Umschreibungen sind für den anspruchsvollen Musikkritiker unabdingbare Werkzeuge, wenn dieser Alben oder Songs dem geneigten Leser, der diese mutmaßlich noch nicht gehört hat, näher bringen will. Manchmal jedoch geschieht es, dass der Autor an die Grenzen des Beschreibbaren gelangt und seine Hirnwindungen um ein Vielfaches zu drehen und wenden versucht, um zu erklären, was er da gerade aus den Lautsprecherboxen vernommen hat. Doch jeder Versuch, dem Gehörten in Worten auch nur annähernd beizukommen, scheitert kläglich.
So ist es dem Autor dieser Zeilen ergangen, nachdem er "Electric Sun" von VNV Nation durchgehört hat. Welche Emotionen und Gedanken dieses Werk in einem auslöst, können selbst wohlfeile Sentenzen nicht annähernd adäquat verdeutlichen. Also wäre jetzt hier schon der Moment gekommen, die letzten Sätze in die Tastatur zu hacken und den Leser in die Welt hinauszuschicken mit dem Hinweis, er solle sich diesen absoluten Meilenstein selbst zu Gemüte führen, um auf seine eigenen Gedanken zu kommen und den eigenen Gefühlen nachzuschmecken.
Da aber dies natürlich nicht Sinn der Veranstaltung ist, wird folgend versucht, das Faszinosum "Electric Sun" über zwei grobe Kategorien zu definieren: die Töne und Worte. Es hat sich mit Blick auf diese beiden Bereiche nämlich viel getan. Trotzdem klingt das Album immer noch nach VNV Nation - vielleicht sogar noch mehr denn je.
Mit Sicherheit war die Zusammenarbeit mit dem Filmorchester Balbelsberg anno 2015, aus dem das Album "Resonance" entstand, ein Schlüsselerlebnis für den Wahlhamburger. Damals wurden einige Songs aus dem VNV-Oeuvre neu arrangiert und als große Kompositionen aufgenommen. Zwar war Ronans Klassikaffinität schon immer offensichtlich (bereits "Empires" von 1999 besaß jede Menge Verweise). Doch so unumwunden damit zu spielen und sie monolithengleich in die Songs einzubauen, wird erst jetzt richtig sichtbar.
Schon das Titelstück, das als Eröffnung des Albums perfekt gewählt wurde, ist dank seines schleppenden Rhythms und den wie Donnergrollen einsetzenden Streichern im Finale vergleichbar mit der majestätischen Gravitas melancholischer Werke russischer Komponisten aus dem 19. Jahrhundert. Das Stück gibt den Tenor des gesamten Albums an, das natürlich sein Momentum im Tanz hat ("Before The Rain", "Artifice" und "Prophet" besitzen typischen VNV-Vibes aus arabesken Synthesizermelodien, brodelnden Basssequenzen und druckvollen, aber nie Überhand nehmenden Beats).
Doch auch hier bringt sich die Klassik stärker ein. "Wait" denkt die Intropassage ihres Everblacks "Further" weiter und baut zwischen den stürmisch preschenden Beats und brummenden Sounds eine klassische Streicherpassage ein, über die sich der Song noch mal neu definiert und schließlich mit viel mehr Trance-Epil endet, als er noch begonnen hat. Solche kompositorischen Leckerbissen finden sich auf dem neuen Album zu Hauf und sorgen regelmäßig für Aha-Momente.
Über die musikalische Herrlichkeit, die mit "episch" nur sehr dürr umschrieben ist (allein das getragene "At Horizon's End", das mit seinen sakralen Orgeltönen die Dynamik zwischen üppiger Soundwand und kontemplativen Augenblicken austariert, kann von diesem Adjektiv nur schwach umrissen werden), darf auch die lyrische Kraft Ronans nicht vergessen werden, die sich auf "Electric Sun" in höhere Sphären begibt.
Denn, das macht "Electric Sun" zu Beginn deutlich, das gesungene Wort erhält noch stärkere Gewichtung. Ronans Lyrik ist zwar jeher metaphorisch und wenig konkret, aber selten so dringlich. Der gebürtige Ire singt nicht einfach, sondern stülpt seine inneren Ängste, Wünsche und Hoffnungen nach außen und tut dies mit einer wohldosierten Dramatik in seiner Stmme. Sein mit den Jahren rauer gewordenes Organ verstärkt diesen Effekt natürlich und macht seine Texte zu Pamphlete für die Menschlichkeit. Ronan wird zum Prediger, der seine Welt ganz genau wahrnimmt und uns mit seinen Worten keine Antworten auf unsere Fragen schenkt, aber das Gefühl von Geborgenheit und Verständnis in unruhigen Zeiten.
Am Ende, nach all dem Furor und dem bedingungslosen Hineinstürzen in die Emotionen, entlässt uns "Under Sky" mit liebevollen Streichern, die teilweise von dudelsackähnlichen Klängen unterfüttert werden - vielleicht eine Anspielung auf Ronans eigene Herkunft? Ist "Electric Sun" gar die erste große Innenschau eines Mannes, der in der Mitte seines Lebens angekommen ist und über seine Wurzeln sinniert? Viel kann wieder gedeutet und interpretiert werden auf "Electric Sun". Eines jdeoch bleibt unzweifelhaft: Es ist ein inkommensurables Meisterwerk geworden. Thank you for the music, Mr. Ronan Harris! Das ist alles, was man nur schreiben kann.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 05.05.23 | KONTAKT | WEITER: DAVID SYLVIAN VS. JUNGSTÖTTER>
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