SAMPLING: ALLES NUR GEKLAUT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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SAMPLING: ALLES NUR GEKLAUT

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Jung-Konservativen Gemütern jagt es eisige Schauer über den Rücken: Bedeutet denn Kunst nicht, etwas Großes nur mittels ureigener Genialität zu erschaffen? Die selbsternannten Hüter des Heiligen Grals müssen seit einiger Zeit mit ansehen, wie sich die Lieblinge namhafter Museen hemmungslos aus den Archiven der universellen Kunstgeschichte bedienen. Sie nennen es wahlweise Collage oder Pastiche - und deuten alte Meisterwerke mit einem leistungsungebundenen Selbstbewusstsein um, das Popkultur-Kritikern die Schamesröte ins Gesicht treibt. Auch die Musik kennt diese Form der aufbereitenden Wiederverwertung: Sampling. Das bedeutet, Versatzstücke aus anderen Quellen in seine eigene Komposition einzubauen. Ähnlich den Malern und Bildhauern, die in der Bildenden Kunst auf alte Meister zurückgreifen, suchen auch die Musiker auf diese Weise nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Zwar ist nicht alles Sampling-Gold, was in den Klangkellern der Welt von Ferne glänzt. Dennoch führt diese noch relativ junge Kunstform zu teilweise erstaunlichen Ergebnissen.

UNTER.TON hat die ultimativen TOP-5 dieser Collagen-Songs zusammengestellt.

Platz 5 || Art of Noise >> "Beatbox"
Zwei Instrumente sind für den Beginn exzessiven Samplings in der Popmusik essentiell: Der Fairlight CMI und das Synclavier - computerbasierte Apparate, die Töne aufnehmen und über eine Tastatur in verschiedenen Tonlagen wiedergeben konnten. Die ersten Exemplare des Fairlights gingen an Stevie Wonder und Peter Gabriel, die sich schnell für die neue Technik begeistern konnten. Trotzdem blieb das Gerät nicht mehr als ein aparter Special-Effect. Dann kam Trevor Horn, der Mann, der die 80er erfand – und die Samplingtechik zu einem charakteristischen Teil dieser neonschillernden Dekade machte. Das erste, über alle Maßen selbstbewusste Lebenszeichen seiner gesichtslosen Studio-Band (bestehend aus Musikern, die auch dem künstlich auf Skandal gebürsteten Projekt Frankie Goes To Hollywood die Klänge lieferten) war 1983 "Beat Box". Obwohl der kommerzielle Erfolg größtenteils ausblieb, sollte der Track stilprägend für die kommenden Veröffentlichungen sein. Während die Nachfolgesingles "Close To The Edit" (das teilweise auf "Beat Box" aufbaute) und "Moments In Love" eine verfeinerte Technik besaßen, war das Single-Debüt ein noch ruppig daher polterndes Monstrum, das die neue Technik leicht ungelenk integrierte. Trotzdem oder gerade deshalb erfreute sich dieses Stück vor allem in der amerikanischen Dance- und HipHop-Szene großer Beliebtheit. Zudem enthielt es bereits alle Zutaten, die ein paar Jahre später andernorts gewinnbringend eingesetzt werden würden. Zum Beispiel der bekannte Orchestertusch, der in "Owner Of A Lonely Heart" von Yes erklingt. Auch anlassende Motoren und gluckernde Abflüsse fanden im surrealen horn'schen Klangkosmos Platz. Rückblickend betrachtet, wurde das Sampling nie wieder derart kunstvoll in Szene gesetzt wie bei den Musikern von Art Of Noise.

Platz 4 || Fad Gadget >> "Collapsing New People" (Berlin Mix)
Frank Tovey, leider viel zu früh verstorben, nahm als Fad Gadget die Rolle des geteerten und gefederten Geburtshelfers des New Romantic ein. Seine dekadenten Elektro-Songs strotzten vor Ironie und klanglichem Einfallsreichtum. Gedankt wurde es ihm kaum. Kurz, bevor er seinen Performance-geschwängerten Fad Gadget zu Grabe trug, bäumte er sich noch einmal auf - und hinterließ der Nachwelt 1984 einen perfekten Song für das industrielle Musikzeitalter. "Collapsing New People" zeigt noch einmal Toveys lyrische Undurchdringbarkeit. Wer sind diese "Collapsing New People"? Eine Form von Vampiren? Handelt es sich bei diesem Lied um die Beschreibung einer emotionskalten Gesellschaft an der Schwelle zur sozialen Apokalypse? Oder leistet sich Tovey wieder einmal einen Scherz und zieht genüsslich über die immer größer werdende Grufti-Bewegung her, die nur all zu gerne Fad Gadget in ihren Reihen wissen wollte? "Take Hours Of Preparation / To Get That Wasted Look" heißt es da. Wer eingestürzt sein will, muss leiden – auch vor dem Badezimmerspiegel. Wie der Text letztendlich zu lesen sein mag: Der maschinelle, von metallischen Schlägen durchzogene Song erinnert an das rege Treiben in einer Stahlfabrik. Ein fast schon deutscher Song, möchte man meinen, und liegt damit gar nicht so falsch. "Collapsing New People" entstand in Zusammenarbeit mit den Einstürzenden Neubauten (engl. Collapsing New Buildings). Die Berliner Avantgardisten um den stets am Wahnsinn entlang schrammenden Dandy-Punker Blixa Bargeld generierten Anfang der 80er aus Gegenständen von diversen Schrottplätzen ein beklemmendes, schizophrenes Klang-Szenario. So poppig und eingängig wie bei Fad Gadget waren sie davor und danach nicht noch einmal. Im so genannten Berlin Mix, einer verlängerten Fassung des Stücks, durchzucken die improvisierten Trommeleinlagen der Neubauten wie Lichtblitze das tönerne Klangfabrik-Szenario. Deutsch-Britische Metall-Maschinen-Musik in Reinkultur.

Platz 3 || MARRS >> "Pump Up The Volume"
Es war ein Skandalsong mit Ansage. Dank mittlerweile erschwinglicher Technik war es 1987 kein Problem mehr, Songs zu samplen und sie sich, in welcher Form auch immer, zu eigen zu machen. Das rief gleichzeitig die Gerichtshöfe auf den Plan, die sich mit der Frage des Urheberrechts eingehender befassten mussten. Die Vorlage hierzu lieferte auch "Pump Up The Volume" von MARRS, der notabene erste kommerziell erfolgreiche Song, der hauptsächlich aus Samples bestand. Das Projekt war ein Zusammenschluss zwischen der Indie-Truppe A.R.Kane und den Elektronikern von Colourbox. Mehr oder weniger spontan entstand das Lied der Labelkollegen von 4AD. Das Rezept war denkbar einfach: MARRS wilderten durch ihre Plattensammlungen, pickten sich die interessantesten Versatzstücke heraus, und unterlegten die Collage mit einem für damalige Zeit extrem coolen House-Beat. An die 30 verschiedenen Samples wurden eingesetzt: James Brown, Afrika Bambaataa, The Bar-Keys, The Criminal Element Orchestra oder Kool & The Gang - sie alle fanden ihren Platz in diesem Songeintopf. Allerdings schmeckte dieser nicht jedem Musiker, der ungefragt mitansehen musste, wie Teile seiner Kompositionen schamlos recycelt wurden. Mehrere Klagen folgten. Im Laufe der Zeit erschien das Lied in vier verschiedenen Versionen. Je nach Rechtslage der jeweiligen Länder fehlten einige Schnipsel. Dennoch: "Pump Up The Volume" wurde ein weltweiter Hit, erreichte in Deutschland Platz 2 - und ist bis heute bestes Anschauungsmaterial für das gewinnbringende Schmücken mit fremden Federn. Urheberrecht hin oder her.

Platz 2 || Depeche Mode >> "Pipeline"
1983 war für die Jungs von Depeche Mode ein wichtiges Jahr. Nach dem Weggang von Vince Clarke zwei Jahre zuvor, fand man in Alan Wilder mehr als nur einen passenden Ersatz. Er war die ausgleichende Kraft, die sich mit Sänger Dave Gahan verband, während Komponist Martin Gore eher die Nähe von Andy Fletcher suchte. Diese neue Dynamik ist auf "Construction Time Again" deutlich zu hören. Vom süßlichen Synthie-Pop der Frühphase hat sich die Gruppe längst verabschiedet. Fortan zeichnete das Quartett mit mollschwangeren Tönen immer dunklere, introvertiertere Visionen - und geriet in den Sog deutscher Bands wie Einstürzende Neubauten und Deutsch Amerikanische Freundschaft. Davon beeinflusst, nutzten Depeche Mode auf ihrem dritten Album "Construction Time Again" erstmals die Technik des Samplings. Wie bei den Vorbilder aus Good Old Germany sollten nicht andere Songs, sondern Umweltgeräusche für die Kompositionen herhalten. So suchte sich das Quartett für "Pipeline" ein leerstehendes Haus in Shoreditch. Dort nahmen die Jungs alles auf, was in irgendeiner Weise Töne hervorbrachte. Zudem sang Gore den Song in diesem Gebäude ein, was die gespenstische Stimmung von "Pipeline" verstärkte. Es ist ein eigenwilliges Stück, das als englisches Pendant zum Klassiker "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps steht. Statt muskelbepackter Elektronik wirkt dieser Rohbau jedoch wie in Zeitlupe aufgenommen. Gespickt mit Robin-Hood-Gedanken ("Taking From The Greedy / Giving To The Needy") erhält das Stück gar einen sozialistisch gefärbten Touch. Die "Pipeline" als Verbindungsglied zwischen arm und reich? Die industrielle Kulisse des Songs lässt diese Euphorie jedoch vermissen. Vornehm nimmt sie sich zurück - und überlässt die Deutung dem Hörer. Selten waren Depeche Mode danach so experimentell wie auf "Construction Time Again".

Platz 1 || Okay! >> "Okay!"  
Als die deutsche Gruppe Okay! ihren gleichnamigen Song 1988 veröffentlichte, war das Sampling-Verfahren bereits legitim und durch MARRS, Bomb The Bass ("Beat Dis") und S'Express ("Theme From S'Express") längst in der breiten Masse angekommen. Okay! zeigten sich in ihrem Schaffen stets heimatverbunden: Anstatt andere Songs zu verwursten, nutzten Marcus Gabler und Christian Berg, die beiden kreativen Köpfe hinter diesem Projekt, gänzlich andere Quellen: Tagesschau-Sprecher, Durchsagen an Bahnhöfen und in Supermärkten, eine Bundestagsrede... Obwohl auf den ersten Blick nicht zusammenpassend, klingen diese Vesatzstücke wie aus einem Guss. Okay! reduzierten die Sprachfetzen nämlich zu einem sinnbefreiten Klangbild; das gesprochene Wort wurde Teil des Instrumentals. "Okay!" ist ein in Stimme und Ton festgehaltenes, vages Gemälde bundesdeutscher Befindlichkeit, gespickt mit einigen historischen Ereignissen (Mondlandung, Fußball-WM-Finale 1954 in Bern). Dem Projekt gelang mit diesem Song ein großer Hit: Nach Milli Vanillis "Girl You Know It's True" und Ofra Hazas "Im Nin Alu" die meistverkaufteste Single in diesem Jahr. Die Perfektion, mit der das gesprochene Wort in das elektronisch-treibende Klanggerüst verwoben wurde, ist bis heute noch erstaunlich. Leider blieb es bei diesem einen großen Hit für Okay!

|| TEXT: DANIEL DRESSLER // DATUM: 26.05.2014||


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