VITALIC "DISSIDÆNCE - EPISODE 1": RAVE NEW WORLD
Bis zu ihrem katastrophalen Ende anno 2010 war die Love Parade so etwas wie der große Tanztee für eine Community, die wie ein Hippietum auf Speed in ihre eigene Welt aus viel Liebe, Musik und hie und da auch ein paar illegalen Substanzen eintauchten. Bereits mit den Anschlägen auf das World Trade Center neun Jahre zuvor fand bereits eine Zäsur statt. Das Ende der Spaßgesellschaft wurde eingeläutet, die farbenfrohen Raver und ihr verrückter, 160 BpM und schneller abfahrender Sound, wirkte auf einmal wie aus der Zeit gefallen und deplaziert.
Doch davor, und speziell in einer kurzen Zeit zwischen 1993 und 1998, waren die Technojünger Sinnbild einer goldenen Generation, die nach dem Wegfall ideologischer Systeme - NATO auf der einen Seite, Warschauer Pakt auf der anderen - die neu gewonnene Freiheit in vollen Zügen genießen konnten (und damit dder krasse Gegenentwurf zum Null-Bocker-Slacker der Grungebewegung gewesen sind).
Mittlerweile ergötzt sich elektronischer Club-Sound allerdings in der Sinnlosigkeit seines Daseins. Die revolutionäre Kraft der aus den Maschinen herausgfrickelten Töne ist einem sehr glattgebügelten Bumm Bumm gewichen. Sequenzen und Rhythmen sind zum Kotzen perfekt und rollen rundegelutscht wie eine Technomurmel durch die Gehörgänge ohne bleibende Eindrücke zu hinterlassen.
Gut zu wissen, dass es da immer noch einen gibt, dem die altuellen Strömungen scheinbar herzlich egal sind. Vitalic ist der Gallier der Techno-Szene, ein musikalischer Asterix, der sich mit Vehemenz gegen das Onkelhafte aktueller Club-Produktionen auflehnt und sich auf "Dissidænce -Episode 1" seiner Wurzeln besinnt: Mit teilweise abstrusen Melodiefolgen erarbeitet sich der Franzose einen eigenen Klangkosmos, der in der Tradition der alten Heroen wie DJ Hell, Westbam und ähnlichen steht.
Vitalics neuestes Album ist schroffer und härter als sein gefälliger ausgefallener Vorgänger "Voyager" (ein Song daraus, "Waiting For The Stars", schaffte es dank einer Automobilwebung sogar zu größerer Bekanntheit). Ein durchaus konsequenter Schritt, denn damit reagiert der Musikproduzent direkt auf die momentane Stimmung einer pandemischen Welt. Und offensichtlich hat er etwas dagegen. Im Wortspiel des Albumtitels kristallisiert sich eine klare Gegenhaltung heraus, die der Musiker perfekt in Noten verpackt hat.
Dem beinahe Erstarren allen gesellschaftlichen und vor allem kulturellen Lebens setzt er den bedingungslosen Tanz und die ausufernde Extase dagegen. Dabei macht er keine Kompromisse und fährt bei "Rave Against The System" einen Acid-House allererster Güte hoch. Wer sich noch an Mellow Trax' "Phuture Vibes" oder "Higher State Of Consciousness" von Winx erinnert, wird hier ein angenehmes Déjà-Vu-Erlebnis haben. Dieser Track verlagert Techno wieder in den Untergrund und macht die ehemals revolutionäre Kraft dieser Musik deutlich.
Doch Vitalic ist ein Meister auf vielen Gebieten: In "Carbonized" trifft technoisierter EBM von Combichrist auf die Krachkulisse von The Normals "Warm Laetherette", "Cosmic Renegade" verfrachtet den deutschen Trance von Jam & Spoon in das neue Jahrtausend, bei "14 AM" winkt Laurie Andersons "O Superman" aus der Ferne, und "Boomer OK" bläßt mit subbassigen Beats und manischen Synthiesounds den Staub aus den Knochen.
"Dissidænce -Episode 1" ist das Album zur richtigen Zeit. Es ist wütend, energisch, ausgelassen - und es sehnt den Tag herbei, an dem es wieder möglich ist, ohne Restriktionen die Clubs und Diskotheken zu besuchen, um ordentlich zu feiern. In der jetzigen Situation aber wird dem Album eine weitere Eigenschaft zuteil: Sie ist musikalische Revolte gegen den Status Quo und wäre bei den in Frankreich stattgefundenen Raves zum Jahreswechsel 2020/21, bei dem die Polizei erfolglos versuchte, dieses Happenng aufzulösen, sicherlich der passende Soundtrack für die aufgepeitschte Menge gewesen. Vitalics neuestes Werk ist ein konsequenter Rave gegen das Establishment und für eine neue, bessere Welt.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 15.10.21 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 16/21>
Webseite:
www.vitalic.org
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