VIAGRA BOYS "WELFARE JAZZ": JAZZ IST ANDERS
Als "worst kept secret" werden die Jungs gehandelt. Die Viagra Boys, deren erster Teil ihres Namens V**gra geschrieben wird, damit entsprechende Nachrichten über die verrückten Skandinavier nicht aus Versehen im Spamordner landen, sind ein fürwahr wilder Haufen. Sänger Sebastian Murphy ist Tätowierer, was man in ihren witzigen Musikvideos fast schon erahnen kann, und hat seine Musikerkollegen auf seiner Arbeit getroffen. "Nach einer gewissen Menge Alkohol und einem Karaokeabend stand dann fest, eine Punkband muss her." (laut.de)
Aber ist das wirklich noch Punk im klassischen Sinne? Nun, "Welfare Jazz", wie es uns der Titel ihrer zweiten Scheibe weismachen möchte, ist es jedenfalls nicht. Doch damit hören die schlüssigen Definitionsversuche schon auf. Wie einst die Bloodhound Gang, die es auf ihren ersten Scheiben verstanden haben, so ziemlich alles aus der Popgeschichte zu zerhackstückelten und ihre pubertären Späße beizumengen, gehen die Potenzmittel-Jungs ähnlich sorglos mit dem musikalischen Erbe um, sind aber um einiges abgefuckter und.
Heißt konkret: Blues, Disco, Punk, Avantgarde - bei den Viagra Boys alles kein Problem. Dazu noch eine Prise schwarzer Humor, fertig. Was auf den ersten Blick eher nach chaotischer Willkür klingt, entpuppt sich schnell als eine herrlich grobschlächtige Assi-Feier-Platte mit musikalischen Raffinessen, die es in diesem lärmenden Moloch zu ergründen gilt.
Denn bei aller drogeninduzierten Kaputtheit, die auf "Welfare Jazz" geradezu genüsslich ausgekostet wird, besitzen Nummern wie "I Feel Alive" dann doch die theatral-vagabundöse Düsternis eines späten Tom Waits, in etwas abgeschwächter Form - und auch dank der reduzierten Instrumentierung bei "Into The Sun" - sind auch einige Stilmittel zu erkennen, die den Soloalben von Mark Lanegan eigen sind.
Der Effekt wird nur erzielt, weil auch Sebastians Stimme eine ähnlich monströse Brüchigkeit wie die beiden zuvor Genannten besitzt und zum Hauptmerkmal der Viagra-Boys-Nummern gerät. Das abschließende "In Spite Of Ourselves" verliert sich dann auch in einen dekonstruierten Country-Song im dunklen Lee Hazlewood/Nancy Sinatra-Stil, ehe die beiden gestrandeten Persönlichkeiten Hand in Hand im psychedelischen Rausch der Flötentöne verschwinden.
Doch davor zeigt sich die wilde Spaßtruppe als "Bad Viagra Boys". "Ain't Nice" vereint den Chic spätsiebziger New-Wave-Nummern (inklusive kehliger Saxofonbearbeitung), während "Toad" mit seinem rollenden Bass wie eine ziellose Fahrt mit einem völlig verrosten Dodge über die Route 66 anmutet. Und der straighte Electro-Beat bei "Creatures" lässt den Charme verratzter Dissen mit Plastikpalmen, kaputter Spiegelkugeln und veralteter Lichtanlage aufleben. Wer hier noch tanzt, hat seine besten Zeiten bereits hinter sich.
Das alles spielt sich jedoch mit einer unglaublichen Coolness ab. So zerrissen das Quintett auch klingen mag: Man will mit diesen Jungs abhängen. Denn es dürfte ziemlich sicher sein, dass ihre Parties die besten sind. Und ihre Internetseite beweist einmal mehr, dass die Viagra Boys sehr viel Humor besitzen. Nach dem fulminanten Erstling "Street Worms" ist "Welfare Jazz" die konsequente Weiterführung einer Band, die sich als Outlaw-Bande klug selnbstinszeniert.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 25.01.21 | KONTAKT | WEITER: CHRISTIAN FIESEL VS. SIMONA ZAMBOLI>
Webseite:
www.vboysstockholm.com
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