BUNTSPECHT "AN DAS GESTERN, DAS NIE MORGEN WURDEN DARFTE. ICH WARTE" VS. WERCKMEISTER "MARUSCHKA": ALPENLÄNDISCHE WORT- UND KLANGAKROBATEN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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BUNTSPECHT "AN DAS GESTERN, DAS NIE MORGEN WURDEN DARFTE. ICH WARTE" VS. WERCKMEISTER "MARUSCHKA": ALPENLÄNDISCHE WORT- UND KLANGAKROBATEN

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Allein für diesen Titel sollten Buntspecht einen Orden wider den tierischen Ernst verliehen werden. "An das Gestern, das nie Morgen wurden darfte. Ich warte" ist auf so vielen Ebenen falsch und unsinnig - und passt daher perfekt in den buntspechtigen Kosmos, bei dem das Wort in seiner Bedeutung gerne mal auf Links gedreht wird oder in ganz neuen Zusammenhänge gebracht wird. Das ist schon bei den frühren Alben so gewesen; sie trugen Titel wie "Draußen im Kopf" (2019) oder "Spring bevor du fällst" (2021). Letzteres hatte es sogar an die Spitze der österreichsischen Charts geschafft, was ein Indiz für die Beliebtheit der Band in ihrem Heimatland ist.

Brandbeschleuniger war in diesem Fall Corona. Denn ihre Single "Unter den Masken" aus dem 2019er Album war der perfekte Soundtrack für ein neues Leben im Zeichen lebensrettenden Mundschutzes und rückte Buntspecht weiter in das popkulturelle Bewusstsein. Ungewollt trafen Buntspecht den Nerv der Zeit und der Song wurde millionenfach gestreamt. Sie selber haben sicherlich -  wie so viele andere - die Pandemie verflucht, weil sie ihnen das Liebste wegnahm: die Liveauftritte. Denn das Quintett ist für ihre energetischen Shows bekannt, die auf den Schallplatten natürlich nur ansatzweise herauszuhören ist. Der von allen Konventionen losgelöste Sound, der sich auf "An das Gestern..." noch ein bisschen abgedrehter gibt, lässt dennoch erahnen, wie freigeistig diese Band ist und die Genreschubladen der Reihe nach auseinandernimmt.

Auf Buntspechts fünftem Album drehen die Jungs weiter an der Nonsenseschraube. Das rauschhafte Momentum von "Hollywood Drama", in denen violette Tabletten und abgeleckte Salamander vorkommen, findet sich nicht nur auf textueller Ebene statt, sondern auch in der völlig unerwarteten und doch in sich logischen Verquickung aus Art Rock, Jazz und Kunstlied. Damit legen Buntspecht bereits ihre gesamte Palette offen und deklinieren sie im Laufe des Albums auf ganz unterschiedliche Weise durch.

Das geht sogar soweit, dass man bei "Funny Faces" einen Hauch Gothic heraushört, was vor allem am dramatischen Intro und Florentin Streichers sonorem Organ liegt, das aber im Mittelteil durch die zirpende Leichtigkeit von Lukas Klein eine unerwartete Wendung erhält. In "Oh Boy" mag man sogar den spacig-psychedelischen Sound von Pink Floyd ausmachen. In diesen beiden Stücken offenbart sich das Streben der Gruppe nach ungezügelter Schaffenskraft. Und in der Tat: So etwas wie Buntspecht gibt es hierzulande nicht ein zweites Mal.

"An das Gestern..." gehört ohne Zweifel zu dem bisher besten Album, dass die Österreicher erdacht haben, weil sie nicht auf der Stelle geblieben sind, sondern ihren Horizont noch ein bisschen weiter nach vorne gezogen haben. Der Himmel ist schon lange nicht mehr die Grenze. Der anarchische Klang ist Buntspechts Antwort auf die Eintönigkeit der Welt und der Aufruf, im Verrückten die Freiheit zu entdecken. Wir sollten alle mehr auf Buntspecht hören!

Und auch auf Werckmeister, ebenfalls in Wien ansässig. Obwohl die Gruppe so klingt wie der Nachname eines der Mitglieder, besteht das Trio aus Sänger David Howald, Bassist Florian Hümmer und Schlagzeuger Bernhard Weiß. Dieses ließ mit "Kairos" einen beachtlichen Erstling auf die Menschheit zu, welches ein ganz eigenes Klangverständnis offenbar werden ließ: In erster Linie sind Werckmeister nämlich große Melancholiker und Wortakrobaten. Das ändert sich nicht beim neuesten Album "Maruschka" nicht im Geringsten. Und doch sind die neuen Lieder ganz anders gestrikt.

Denn das Dunkle, Schroffe aus dem Erstling weicht einer vordergründigen Leichtigkeit. Bei "Trink mein Adrenalin" sind beispielsweise chansoneske Liedermachermanierismen ganz offensichtlich zu Tage gefördert worden, während die Texte immer noch in tiefe Abgründe blicken lassen. "Maruschka" ist ein sinniger Titel, bezeichnet er doch die bekannten russischen Holzfigüchen, die ineinandergesteckt sind, auch als "Matroschka" bekannt. Sinnbildlich für die mehreren Ebenen, die Text und Musik durchdringen.

Denn die Band befreit die Songs von ihren einzelnen Schichten und fördert buchstäblich Unerhörtes zutage. "Die Datenbank" wandert von einem an Madrugada erinnernde Ballade, die am Ende mit einer Wall Of Sound, bestehend aus prächtigem Schlagwerk und elektronische verfremdeten Gitarren, in die Höhen bringt. "Wenig bis nichts" dagegen kann man, rein aus musikalischer Sicht, in "Vieles bis alles" umbenennen. Auch hier schwillt der Song an, beginnt erst mit stoisch pluckernden Beats, ehe verhallte Pianolinien, verstörend präsente Soundeffekte und Schuhstarrer-Atmosphäre das Lied ebenfalls nach oben ziehen.

Textlich entzieht sich Werckmeister einer eindeutigen Auslegung seiner Lyrics. Ein "Springbrunnen der Rhetorik" wie es im psychedelischen "Frühling der Chimäre" heißt, kann man David durchaus nennen. Seine Lyrics sind in ihrer Verstiegenheit und metaphorischen Üppigkeit kaum mit anderen Bands oder Sängern vergleichbar. Werckmeister sind Schwarzromantiker, eingebettet in einem Sound, dessen Ausschlag so groß ist, dass er völlig konträre Genres wie Singer-Songwriter, Gothic und Indie berührt, um schlussendlich daraus ein kohärentes Klangkonstrukt zu basteln.

Leiwand, wie der Wiener und die Wienerin sagt, wenn etwas fein gelungen ist. Das kann man Buntspecht und Werckmeister zurufen - und zwar bei jendem ihrer neuen Songs. Sie sind der beste Beweis, dass Musik noch lange nicht zu Ende gedacht worden ist und sich immer weiter entwickelt. Es braucht eben nur die Menschen, die auch die Chuzpe haben, bekannte Pfade zu verlasse, um im tönernen Wildwuchs einen neuen Weg zu bahnen.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 24.11.23 | KONTAKT | WEITER: MARÍ VS. JANDA>

Webseite:
www.buntspechtband.at
www.werckmeister-music.at

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Cover © Phat Penguin Records (Buntspecht), Erdgleich (Werckmeister)

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