AMANDA PETRUSICH "UM KEINEN PREIS VERKAUFEN - DIE WILDE JAGD NACH DEN RARSTEN 78ERN UND DIE SUCHE NACH DER SEELE AMERIKAS": UNITED STATES OF ACHTUNDSIEBZIGER - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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AMANDA PETRUSICH "UM KEINEN PREIS VERKAUFEN - DIE WILDE JAGD NACH DEN RARSTEN 78ERN UND DIE SUCHE NACH DER SEELE AMERIKAS": UNITED STATES OF ACHTUNDSIEBZIGER

Exlibris
Wir sollten einem Mann besonders dankbar sein: James McKune. Der geneigte Leser vor dem Bildschirm wird sich vielleicht fragen: Wieso? Und: Wer ist überhaupt dieser McKune? Eigentlich nicht mehr als eine gescheiterte Persönlichkeit, vermeintlich homosexuell, alkoholsüchtig - aber einer der wichtigsten Bewahrer früher Bluesaufnahmen, gebannt auf raren Schellackplatten. McKune gehörte zu dem sich im Amerika der Nachkriegszeit formierenden Zirkel eifriger Sammler von 78ern (wie die Schellacks wegen ihrer Umdrehungszahl genannt werden). Er brachte eine Anthologie noch erhaltener Tondokumente, die zwischen Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg entstanden sind, auf dem Markt und zog die Musik der "Negroes" ins Licht des allgemeinen Interesses.

Auch Harry Smith, der in den 1950er Jahren (und unter Einfluss halluzinogener Substanzen) die legendäre "Anthology Of American Folk Music" zusammenstellte, ein wahnwitziges, drei Alben umfassendes Sammelsurium aus Country-, Blues- und Folkstücken, die zwischen 1926 und 1933 auf Schellack erschienen sind, gehört zu den einflussreichsten Figuren der amerikanischen Pophistorie. Seine krude, nach ganz eigenem Spannungsbogen aufgebaute Compilation war die akustische Bibel für die damals noch jungen Folk-Generation um Bob Dylan und Peter, Paul And Mary.

Es sind diese Geschichten, die Amanda Petrusich in ihrem Buch "Um keinen Preis verkaufen" so lebendig zu erzählen im Stande ist. Als Musikjournalistin vom Fach und selbst der Sammelleidenschaft alter Schellacks verfallen, eruiert sie in erster Linie die schrullige 78er-Sammlerszene im Nordamerika der Neuzeit, die sie geschickt mit ihrer eigenen Biografie verwebt (herrlich unterhaltsam das Kapitel, bei dem die an Klaustrophobie leidende Petrusich einen Tauchkurs absolviert, um im Milwaukee River nach Schellacks zu suchen, die der Legende nach dort liegen, als die kultig verehrte Paramount Record schloss und die restlichen Bestände im Fluss versenkt worden seien). Auf diese Weise bekommt der Leser ein Gespür für die Faszination dieses Hobbies, das für einige zu einer existentiellen sowie für das Land sinnstiftenden Lebensaufgabe avanciert. Wir fiebern mit, wenn Petrusich wieder einer heißer Spur nachgeht, sich durch Plattenkisten auf Flohmärkten oder bei Wohnungsauflösungen durchwühlt, und wir sind betrübt, wenn ein anfänglicher Hinweis sich im Nichts auflöst oder nicht den erwarteten Erfolg nach sich zieht.

Schon der gemeine Plattensammler - und wir sprechen von der handelsüblichen Vinylsammelleidenschaft - kann eine besondere Spezies sein. Diejenigen, die sich dem Aufspüren alter Schellackscheiben verschrieben haben, von denen es kaum noch welche gibt, wirken in Petrusichs Buch noch eine Spur passionierter und idealistischer. Zwar ufern die Preise für gut erhaltene Schellackplatten auch aus (zur Erinnerung: während Vinyl einen Sturz relativ unbeschadet überlebt, zerspringt Schellack unweigerlich in tausend Teile und ist damit verloren, was die Stückzahl der verbliebenen Tonträger über die Jahre natürlich extrem minimierte), doch geht es den Sammlern vor allem darum, Musik zu erhalten, die das pophistorische Amerika maßgeblich geprägt hat. Schließlich versuchen sie auch, das Beste aus den zum Teil katastrophalen Platten rauszuziehen.  

Der Autorin gelingt es, die Faszination für die alten Tonträger, die in Zeiten von Musikstreamingdiensten derart anachronistisch wirken, lebendig zu beschreiben und respektvoll den einzelnen Charakteren der 78er-Szene anzunähern. In keinem Moment wirkt sie überheblich oder abschätzig, sondern voller Bewunderung und Mitgefühl für diese Menschen, die ihr ganzes Leben dem Erhalt und Aufspüren dieser Raritäten widmen und von außen wie seltsame Exoten und Eigenbrödler wirken.

Neben einem kurzen aber profunden Exkurs in die Anfänge der Musikindustrie, stehen vor allem die Songs und deren Musiker im Zentrum, deren Vitae mindestens genauso erstaunlich sind wie die der Plattensammler. Charley Patton, Blind Joe Death, Blind Uncle Gaspard, King Solomon Hill: Sie alle werden von Amanda Petrusich mit ihren bekanntesten Songs (besser gesagt: mit den Stücken, die erhalten geblieben sind) präsentiert. Während ihre Lebengeschichte packend erzählt wird, scheint bei der Beschreibung der Songs die belesene Musikkritikerin durch, die es versteht, mühelos das Faszinosum an den alten Blues- und Countryplatten in Worte zu fassen. Ihre Liner Notes wirken sehr gut recherchiert und geben einer Aufnahme die philosophische Tiefe. Schließlich kommt man nicht umhin, sich vor den Rechner zu setzen und jene genannten Künstler (und auch Künstlerinnen) auf einschlägig bekannten Videoplattformen zu entdecken.

Sicherlich war das von Petrusich auch so beabsichtigt. Denn damit eröffnen die Leser ein Paradoxon: In der digitalen, rauschfreien Welt, kehren wir zurück an die Ursprünge der Tonaufnahmen, nehmen knisternde Nebengeräusche wahr, die bei manchen Songs derart überhand nehmen, dass sie wie ein tönener Stacheldrahtzaun einen davon abhalten, weiter vorzudringen, wie bei "Miss Emma Liza" von Blind Blake von 1932, einer Aufnahme, an der der Zahn der Zeit so stark genagt hat, von der aber trotzdem oder gerade deswegen etwas Unbegreifbares ausgeht.

Diesen frühen Tonaufnahmen zuzuhören wirkt so surreal wie der Blick auf die (ebenfalls nur rar gesäten) Bilder der Künstlerinnen und Künstler aus dieser Zeit. Denn was man hier zu sehen und zu hören bekommt, ist nichts weniger als das Fundament der (amerikanischen) Popkultur der Moderne, die sich in den Vorkriegsjahren und unter zum Teil dubiosen und wunderlichen Zufälligkeiten langsam entwickelt. Die Autorin öffnet mit "Um keinen Preis verkaufen" die Tür in die wundersamen Welt einer Geek-Enklave, die für Normalsterbliche zwar stets skurril aber unerreichbar sein wird. Doch viel mehr macht sie klar, warum es gerade so extravagante Personen wie James McKune oder Harry Smith sind, die - obwohl nie selbst zum Instrument gegriffen - maßgeblich auf unsere heutigen Hörgewohnheiten Einfluss genommen haben.

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 25.04.23 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 8/23>

Webseite:

ISBN 978-3-7518-0392-2

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© ||  UNTER.TON |  MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR | IM NETZ SEIT 02/04/2014. ||
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