"NEXT WAVE ACID PUNX DEUX" VS. "IPTAMENOS DISCOTEK VOL. 1": BEWAHREN UND ERNEUERN - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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"NEXT WAVE ACID PUNX DEUX" VS. "IPTAMENOS DISCOTEK VOL. 1": BEWAHREN UND ERNEUERN

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Es geht um Herzblut. Um Leidenschaft. Um absolute Hingabe. Denn nur mit diesen Zutaten kann ein guter Sampler gelingen. Es braucht jemanden vom Fach, der sich in der Materie auskennt und im besten Fall seine Persönlichkeit in die Zusammenstellung legen kann. Seit Jahren haben beispielsweise der Radiomoderator Ecki Stieg mit seinen "Grenzwellen" oder Musiknerd Axel Meßinger mit seinen "At Sea Compilations" geradezu mustergültig Kompendien geschaffen, die kein Verfallsdatum kennen. Auch die regelmäßig erscheinenden, fast dokumentarisch aufbereiteten Sampler des britischen Labels Cherry Red zu jeglichen nur erdenklichen Musikströmungen besticht durch Wissen, das weit tiefer in die Materie dringt als gewöhnliche, meist lieblos zusammengeschusterte Liedersammlungen.

Nun dürfen wir eine weitere intelligente Reihe begrüßen: "Next Wave Acid Punx". In den Wirren der Pandemie ist der Redaktion die erste Folge von 2021 durchgerutscht. An dieser Stelle sei auch diese allen wärmstens ans Herz gelegt. Der folgende Text für den zweiten Teil ließe sich aber auch problemlos auf den Vorgänger verwenden, denn beide verfolgen das gleiche Ziel: die Klassiker bewahren und sie den Erneuerern beiseite stellen.

Auf drei CDs erstellt der Musikproduzent und DJ Curses einen nachvollziehbaren Stammbaum der subversiven elektronischen Tanzmusik. Angefangen mit den Altheroen, führt der Weg schließlich in die Gegenwart und zu vielversprechenden Projekten wie Nuovo Testamento, Buzz Kull oder Ultra Sunn. Bei der Wahl des antiken Materials für die erste Scheibe hat sich Luca auf sein Gespür und sein DJ-Wissen verlassen. Denn man ist schnell geneigt, bei Grupen wie DAF, Nitzer Ebb, Throbbing Gristle oder Propaganda die bekannten Gassenhauer zu nehmen.

Der Italo-Berliner entscheidet sich jedoch für die versteckten Juwelen. "Brothers" von DAF ist so ein Beispiel: Anstatt sich auf die klassischen Proto-EBM-Songs ihrer Frühphase zu konzentrieren, greift er sich ausgerechnet einen Song aus dem 86er Album "1st Step To Heaven", das sowohl bei Fans und Band durchgefallen ist, raus. Doch im Kontext seiner dokumentarischen Arbeit macht der discoide Track wiederum Sinn. Außerdem darf man sich auf die kleinen Juwelen "Modigliani" von Book Of Love oder "Ccccan't You See" von Vicious Pink freuen.

Wie nah die neue Generation an den späten 70ern und frühen 80ern des voherigen Jahrhunderts dran sind, belegen die folgenden beiden CDs. Jennifer Touch, die mit ihrem Stück "Altars" vertreten ist, erinnert an den schockgefrosteten Synthesizer-Pop von Anne Clark, während Matrixxman mit "Assembly Line" die rumpelige Lo-Fi-Elektronik von Suicide wieder aufleben lassen. Und EVA reanimieren bei "Industrial Hope" kompromisslose elektronische Körpermusik mit Techno-Kante.

Curses selbst beschreibt den Aufbau seiner zweiten "Next Wave Acid PunX Deux" folgendermaßen: Auf der ersten CD finden sich jene Bands, die im Begriff waren, den Grundstein für eine neue Musikrichtung zu legen, die zweite Scheibe umfasst Musik, die sich auf der Schnittstelle zwischen Pop und Subkultur bewegt, das letzte Drittel beherbergt jene Songs, die dich durch die Nacht tragen (Wer erinnert sich an diese Zeilen: "Nein, Mann! Ich will noch nicht gehn. Ich will noch 'n bisschen tanzen..."). Die Beats sind härter, die Songs rudimentärer (mustergültig: The Hackers "Monopoly") und man vielleicht die musikalische Entdeckung seines Lebens macht. Dementsprechend finden sich auf der dritte Compact Disc auch jede Menge unveröffentlichtes Material für den kleinen Aha-Moment zu Hause.

Will man elektronische Musik und seine Bedeutung für die Untergrundkultur verstehen, ist diese Samplerreihe nicht nur bstes Anschauungsmaterial, sondern auch die einzige Reihe, in der die Genealogie dieser Sparte nachvollziehbar dargelegt wird. Ein Kompendium für Jedermann und Jederfrau. Die älteren Semester finden ihre alten Lieblinge und entdecken vielleicht neue, die jungen Szengänger erhalten einen profunden Einblick in die Geschichte der elektronischen Musik. Das ist nah an der Perfektion.

Wo Curses ist, da sind Local Suicide nicht weit. Brax Moody, gebürtig aus München, und Vamparela aus Thessaloniki kollaborierten bereits öfters zusammen mit ihm. Seit 2008 hat sich das Musikerpärchen durch ihren innovativen Mix aus EBM-, Wave- und Post-Disco-Elementen schnell einen Namen machen können. Sie bezeichnen ihre Kreation als Technodisco - eine durchaus nachvollziehbare Beschreibung. Anders ausgedrückt: Würde es das "Studio 54" noch geben, es würde sicherlich ein paar freakige Abende veranstalten. Und Local Suicide wären an den Plattentellern - oder sie würden selbst live spielen.

Vor zwei Jahren gründeten Vamparela und Moody das Label Iptamenos Discos. In erster Linie natürlich, um ihr eigenes Material zu veröffentlichen. "Eros Anikate" wurde zu einem gefeierten Album und festigte Local Suicides Ruf als der heißeste Scheiß aus Berlin. Der Spiegel, Musikexpress, Sonic Seducer: Magazine aus Hoch- und Subkultur überschütteten das Album mit Lob. Daneben veröffentlichten auch andere Projekte ihre Songs über das Label, sodass Iptamenos Discos zur Anlaufstelle Nummer eins geworden ist, wenn es um Dark Disco geht, wie die Gazetten diese Musik nun offiziell kategorisieren (Technodisco ist und bleibt aber der bessere Ausdruck). Ihre regelmäßigen Clubabende, "Iptamenos Diskotek" genannt, steigerten zudem ihre Bekanntheit.

Nun ist die Zeit gekommen für einen ersten Kassensturz. "Iptamenos Diskotek Vol. 1" vereint die wichtigsten und schönsten Songs - nicht nur von Local Suicide, sondern auch deren Live-Projekt Dina Summer. Fürderhin sind Wiener Planquadrat, Boys' Short und Yotam Russo vertreten. Sie alle definieren den wunderbaren Iptamenos-Klangkosmos, der ziemlich einzigartig in der bndesdeutschen Musiklandschaft steht.

Für die Zusammenstellung haben sich Local Suicide für eine Zweiteilung entschieden. Die erste Hälfte besteht aus den Originalen, darunter "Stillstand" von Wiener Planquadrat, Dina Summers extrem rhythmisches "Who Am I" und Yotam Russos acidlastiges "Twilight Zone Disko". Und Curses? Ist natürlich in Kooperation mit Local Suicide vertreten, sogar gleich dreimal: "It All Sounds The Same", "Secret Friends" und "Whispering". Letztgenannter ist in der zweiten Hälfte von "Iptamenos Diskotek Vol. 1" zu hören. Denn in dieser Sektion befinden sich die Remixe, die für das Label, respektive deren Besitzer, eine ebenso große Rolle spielen.

Hand angelegt bei "Whispering" haben in diesem Fall Adana Twins, die dem Track ein rhythmischeres Korsett verpassten. "Like Follow Subscribe", eine Kollaboration von Local Suicide mit Hard Ton wird im Biesmans Remix zu einer unwiderstehlichen Tanznummer, die ganz viel Italo-Disco- und Hi-NRG-Feeling besitzt. Weitere wohlklingende Namen wie Die Selektion, Neu Romancer oder AFFKT gehören zu der Liste der Neuinterpreten. Ihnen gelingt es, die Seele der Songs und ihren dunklen Kern zu bewahren, dabei aber neue Facetten und Perspektiven zu eröffnen.

"Iptamenos Diskotek Vol. 1" bietet einen ausführlichen Überblick eines prosperierenden Labels, das trotz großem medialen Zuspruchs sich immer noch "subversiv" nennen darf. Die mehr als 30 Songs bieten einen guten Überblick über die Vielfalt dieser kleinen Plattenfirma, die in Zukunft uns hoffentlich weiterhin mit derart gehaltvoller elektronischer Musik abseits von ausgetretetenen Pfaden beschenken wird.

Berlin ist bekanntermaßen "arm, aber sexy". Und es sind gerade Protagonisten wie Local Suicide und Curses, die für den nötigen Sex-Appeal in den subkulturellen Tanzschuppen sorgen. Mit ihren liebevoll und intelligent gestalteten Samplern lassen sie die übrige Republik an der unglaublichen Coolness, die unsere Hauptstadt, aller Gentrifizierung zum Trotz, besitzt, teilhaben. Janz jroßet Kino, wa?!

||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 10.10.23 | KONTAKT | WEITER: BLACKIEBLUEBIRD VS. MIRNY MINE>

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COVER © ESKIMO RECORDINGS/AL!VE ("NEXT WAVE ACID PUNX DEUX"), IPTAMENOS DISCOS ("IPTAMENOS DISKOTEK VOL.1")

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