UND WENN DAS HERZ AUCH BRICHT: ABSCHIEDSSONGS DER EXTRAKLASSE
Unser Leben besteht aus verschiedenen Abschnitten, folgt nie einer stringenten Handlung. Eher sind es Episoden, die nicht selten durch einschneidende Erlebnisse eine jähe Zäsur erfahren. Auch die folgenden fünf Nummern künden von Abschied. Was sie aber besonders macht, sind ihre verschiedenen Lesarten, die über larmoyante Ich-bin-verlassen-und-alles-ist-grau-Lyrik hinausgehen.
PLATZ 5: CHANDEEN "ECHOES" (2003)
Tröpfelnde Pianoklänge und zärtliche Streicher eröffnen dieses meisterliche Kleinod der deutschen Elektronik-Poeten von Chandeen. Eine elbenhafte Stimme ruft in das Dunkel. "I'm calling for you". Doch wer ist damit angesprochen? Vordergründig, so mag man meinen, handelt es sich wohl wieder einmal um ein Beziehungsdrama. Chandeen locken den Hörer jedoch auf eine falsche Fährte, bauen ein Gefühlstheater erster Güte auf, das durch eine Melodieführung, die Melancholie und Trost gleichermaßen beherbergt, das Innerste des lyrischen Ichs nach außen kehrt. Schüchtern, durch musikalische Pausen verstärkt, wandelt die vermeintlich Verlassene durch ihre Erinnerungen, die den Tränenfluss zu stoppen vermögen ("I dry my tears in memories"). Am Ende dann steht die Erkenntnis: "My childhood days so out of sight." Beweint sie also die Flüchtigkeit ihrer Jugend? Oder ist es gar der Verlust eines Elternteils, der hier thematisiert wird? Kann es sein, dass ein langjähriger Freund aus Sandkastentagen das Zeitliche gesegnet hat? In dieser Sentenz liegt die ganze Spannung dieser kleinen Ballade, die sich nicht festlegen möchte, um wen denn eigentlich getrauert wird. Fest steht nur, dass es der Protagonistin schwer fällt, loszulassen: "The Echoes of your tender voice still haunting me". Ob es aber die Stimmen der Kindheit, das Lachen eines langjährigen Freundes oder der gütige Zuspruch von Vater und Mutter ist, wird am Ende nicht gelößt. Chandeen gelingt mit dieser bewegenden Nummer eine allgemeingültige Abschiedsballade, deren Interpretationsspielraum so groß ist, dass sie mehreren Abschiedsanlässen entsprechen könnte und somit den Moment des Verlusts an sich thematisiert.
PLATZ 4: JACQUES BREL "NE ME QUITTE PAS" (1959)
Auch bei diesem weltberühmten Song des größten belgischen Chansonniers öffnet sich eine Meta-Ebene, die der unsterblichen Liebe eine fratzenhafte Maske aufsetzt. Wir erleben hier einen Mann, der schier verzweifelt ist, seine Frau zu verlieren. "Ne me quitte pas" - verlass' mich nicht: Der Refrain umfasst nichts als diesen einen Satz, den Brel, mehrmals wiederholend, am Anfang des Liedes noch bestimmt, am Ende mit dünner, fast nicht mehr existierender Stimme vorträgt. Parallel dazu wandelt sich auch sein Charakter: Bittet der Protagonist zunächst noch seine Angebetete, zu vergessen, was war, steigert er sich immer weiter in bizarre Phantasmagorien rein, will ihr Wasser aus Gegenden schenken, in denen es nie regnet ("Moi je t'offrirai des perles du pluie venues de pays ou il ne pleut pas"), gar eine eigene Sprache erfinden, die keiner außer ihr versteht ("Je t'inventerai des mots insensés que tu comprendras"). Wie Brels Worte, kratzt auch die Musik, einer Nocturne nachempfunden und zum Höhepunkt mit Streichern unterfüttert, an der Überzeichnung dieser Szene, hält sich aber noch soweit im Zaum, um immer noch als traurige Ballade durchzugehen. Schließlich endet "Ne me quitte pas" in einer Selbstauflösung des Mannes, der, wenn er sie nicht halten kann, wenigstens noch stumm bei ihr sein darf. Auch hier betreibt Brel exzessiven Masochismus: "Laisse-moi devenir l'ombre de ton ombre l'ombre de ta main l'ombre de ton chien" ("Lass mich der Schatten Deines Schattens, der Schatten Deiner Hand, der Schatten Deines Hundes sein."). Uneinigkeit herrscht auch über die Genese dieses Stückes. Die Schauspielerin Suzanne Gabriello, mit der Brel eine heftige Liebesbeziehung hatte, gab an, dass er das Lied für sie geschrieben und auch erstmals in ihrer Gegenwart vorgetragen hätte. Brel wiederum relativierte die Aussage und bezeichnete den Song als "Geschichte eines Arschlochs und Versagers". Diese allerdings hat Brel in übernatürlich schöne Zeilen gegossen.
PLATZ 3: JAMES BLUNT "GOODBYE MY LOVER" (2005)
Ganz und gar unmissverständlich und ohne anderweitige Deutung auskommend, geriert sich James Blunts Edelschnulze "Goodbye My Lover". Hier ist die Trennung bereits vollzogen und dem lyrischen Ich dämmert es am Ende schmerzerfüllt: "I'm so hollow, baby." Davor jedoch hadert er noch mit dem Schicksal und räsonniert über das Ende der Laison. "Did I dissapoint you, or let you down? Should I be feeling guilty, or let the juges frown?". Sanft von einem verschwommen-verhallten Klavier begleitet, befindet sich der Mann alleine mit seine Gedanken, die nur um die Verflossene kreisen. Blunt geht dabei den direkten Weg, verbaut seine Ansichten nicht mit sinnschweren Metaphern, sondern spricht in klaren Wörtern all das aus, was ein Mensch denkt, wenn er verlassen wird. Er blickt auf die Zeit zurück, die er mit seiner Liebe verbrachte. "I've kissed your lips and held your head. Shared your dreams and shared your bed. I know you well, I know your smell. I've been addicted to you." Der größte Schmerz ist dabei auch sein einziger Trost: die Erinnerung an die Eine. Sie manifestiert sich in einer wunderbaren Zeile, die mit Blunts typisch larmoyanten Timbre einen intensiven Gänsehautmoment erzeugt. "And I still hold your hand in mine. In mine when I'm asleep. And I will bare my soul in time, when I'm kneeling at your feet." Besonders der letzte Satz markiert jedoch einen nicht endgültigen Abschied. Dieser klang bereits einige Zeilen zuvor an: "We had our doubts, but now we're fine" erinnert eher an die Idee einer gescheiterten Beziehung, die zur Freundschaft umgewandelt werden soll, als an ein unwiderrufliches Ende. So mischen sich in den Schmerz um den Verlust der Liebe auch die Hoffnung auf einen Neubeginn der Beziehung auf eine andere Art. In diesem Moment jedoch wird dem "Lover" erst einmal "goodbye" gesagt - und das mit einer Wahrhaftigkeit und Pointiertheit, die Blunt danach leider nie wieder erreichen sollte.
PLATZ 2: VNV NATION "FROM MY HANDS" (2009)
Eigentlich für die Abteilung Attacke zuständig, rutscht der irisch-englischen Future-Pop-Formation VNV Nation mit schöner Regelmäßigkeit gefühlvolle Nummern von höchster Güte raus. "From My Hands" dürfte dabei wohl der emotionalste Song sein, den Frontmann und Chefdenker Ronan Harris je zu Papier gebracht hat. Auch hier eröffnet eine schüchtern eingespielte Klaviermelodie die Nummer, die in Form eines Dialogs zwischen zwei Menschen aufgebaut ist, beginnend mit demjenigen, der sich verabschiedet: "I have come to say goodbye". Doch auch ihm fällt es schwer, lebewohl zu sagen und entschuldigt sich für seine Sentimentalität. "I lament the moments we won't share. If I am far too sentimental, I apologise." Im zweiten Teil meldet sich der Gegenüber zu Wort, nicht weniger traurig und voller Verzweiflung."Nothing ends, but I don't believe that now. Please don't walk away from here." Am Ende des Dialoges findet der Partner noch tröstende Worte. "Hush now, let it go now. There's no need for sad goodbyes. Hush now, let it go now. I know it's time to go. Time to let this fall from my hands." Ronans schwächer werdende Stimme und das abrupte Ende des Songs macht eine morbide Deutung möglich. Wir befinden uns am Sterbebett; während der eine sich auf das Unvermeidliche vorbereitet, begleitet ihn der Gegenpart, nicht ohne Angst, nicht ohne Schmerz: "I find it so hard to let you go". Zweifellos sehr pathetisch, aber gleichzeitig perfekt inszeniert und arrangiert, drückt "From My Hands" jeden emotionalen Button in unserem Innern und macht uns unserer Vergänglichkeit bewusst.
PLATZ 1: TOM WAITS "RUBY'S ARMS" (1980)
In der Frühphase seiner beispiellosen Karriere stilisierte sich Waits zum singenden Landstreicher. Kette rauchend und exzessiv dem Alkohol zugewandt, zeigte er ein Amerika der Loser auf, die in Bars und Kneipen ihre gestrandeten Persönlichkeiten vor Hochprozentigem beweinen. Das letzte Album aus dieser Zeit, "Heartattack And Vine" schließt mit einer der schönsten und gleichzeitig herzergreifendsten Nummern ab: "Ruby's Arms" beginnt mit moribunden Trompetenklängen und wechselt in ein seliges Piano- und Streicherensemble. Waits besingt mit seiner monströs brüchigen Stimme, wie er seine geliebte, noch schlafende Ruby in aller Herrgottsfrühe verlässt - ohne sie aber in irgendeiner Weise zu glorifizieren oder auch nur im Ansatz näher zu beschreiben. Stattdessen schweift sein Blick durch die Wohnung. An den Jalousien stiehlt er sich vorbei ("I will steal away out through your blinds") und passiert geschwind die Kommode und das kaputte Windspiel ("Hurry past your chest of drawers and your broken windchimes"). Der Blick richtet sich schlaglichtartig auf das Mobiliar der Wohnung, die pars pro toto für ein Zuhause und einer Geborgenheit stehen, die das lyrische Ich aufgibt. Nur ihren Schal nimmt er von der Wäscheleine, um ein letztes Andenken an sie zu haben ("The only thing I'm taking is the scarf off of your clothesline."). Draußen angekommen betrachtet er das frühmorgendliche Treiben auf den Güterbahnhof mit den "Hobos", die über Nacht draußen schlafen mussten und das Feuer am brennen gehalten haben. In dem Moment bricht es aus ihm heraus: "So Jesus Christ, this goddamn rain! Will someone put me on a train? I'll never kiss your lips again or break your heart." Wiedersehen also ausgeschlossen! Ähnlich wie bei seinem vielleicht bekanntesten Song "Tom Traubert's Blues", im Volksmund als "Waltzing Mathilda" bekannt, endet auch "Ruby's Arms" mit einem langgezogenen Geigenfinale, eine tönerne Remniszenz an Waits Alter Ego. Mit einem Labelwechsel von Asylum zu Islands und dem Meilenstein "Swordfishtrombones" einige Jahre später änderte der Musiker und Schauspieler seinen Klang fundamental, weg vom Bar-Piano, hin zu orchestral bis theatral anmutende Nummern mit Widerborsten. In "Ruby's Arms" nimmt nicht nur der Protagonist Abschied von seiner Geliebten, sondern Waits auch von seinem selbstzerstörerischen Beatnik-Charakter.
||TEXT: DANIEL DRESSLER |DATUM: 25.09.17 | KONTAKT |WEITER: MASSIV IN MENSCH VS. PURWIEN & KOWA>
FOTO © DANIEL DRESSLER
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