DIARY OF DREAMS "MELANCHOLIA" VS. MEMORIA "FROM THE BONES": DEM TRÜBSINN KEIN ENDE
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Dass es bei Diary Of Dreams jeher schwermütig zugeht, ist keine bahnbrechende Erkenntnis mehr. Als vor rund 30 Jahren ihr Debüt "Cholymelan" erschien, hat die Tristesse Mastermind Adrian Hates und seine im Laufe der Zeit wechselnden Mitstreiter vollends im Griff. Der Neologismus "Cholymelan", das Vertauschen der beiden Silben von "Melancholy", deuteten aber darauf hin, dass die Formation zwar der Schwermut anheim gefallen ist, diese aber mit einem künstlerischen Ideenreichtum ausstaffierte, dass am Ende eine in Klang und Artwork einzigartige, wiedererkennbare Marke geworden ist. Diary Of Dreams, das steht für Traurigkeit, die sich aber gleichsam heilsam anfühlt.
Und so klingt "Melancholin" als Titel auch wie ein Medikament, das verabreicht werden kann. Doch gegen was ist "Melancholin" wohl gut? Halten wir es mal ganz klassisch mit Aristoteles. Dieser hat in seiner "Poetik" beschrieben, dass ein Theaterstück "phobos" und "eleios", grob übersetzt: "jammern" und "schaudern", bei den Menschen bewirken soll, um sich von diesen Affekten reinzuwaschen ("Karthasis"). Das wäre eine durchaus schlüssige Herangehensweise an das neue DoD-Werk, das aber dieses Mal noch mehr "phobos" und "eleios" besitzt als die vorangegangenen Werke.
Es mag vielleicht an den gegebenen Umständen liegen: Corona, Krieg, Umweltzerstörung...die Liste der Probleme auf unserem Planeten wird immer länger und die Zeit, sie zu lösen, immer knapper. Adrian Hates nimmt natürlich nicht Bezug auf solche Themen; die Band war noch nie politisch motiviert in ihren Aussagen. Aber dennoch beeinflusst die scheinbar aus allen Fugen geratene Gegenwart auch Diary Of Dreams. Und zwar dahingehend, dass dieses Mal das lyrische Ich sich oft in Selbstdiagnosen verdingt. "I am my best friend, I am my biggest enemy", heißt es in "The Secret", "I dine with the beast, I drink with the devil, I sing with a demon, but the monster is me", so die Zeilen aus "Viva La Bestia".
Ist der Blick nach innen abgeschlossen, sind die Beobachtungen der Umwelt meist metaphorisch verschleiert, doch das Hauptthema auf "Melancholin" bleibt der Verlust in seiner schmerzhaften Bandbreite. In Kombination mit den dieses Mal reichhaltigen deutschen Texten, entstehen schnell nachvollziehbare, subkutan wirkende Lieder, von denen das die Platte abschließende Stück "Tränenklar" derart intensiv vorgetragen wird, dass man das Leiden des Protagonisten förmlich mit den Händen greifen kann.
Unterfüttert wird all die textuelle Hoffnungslosigkeit (die sich aber hin und wieder auch mit Hoffnungsschimmer paart) von einem Sound, der in seinem Fundament unverändert ist und die Band repräsentiert, aber in den Nuancen organischer und wuchtiger erscheint. Selbst so tanzbare Stücke wie "The Fatalist" oder "My Distant Light" (Letztgenanntes orientiert sich an die elektronischere Phase der Band während der 00er-Jahre) besitzen durch das Arrangements mehr Wärme und Tiefe.
Die fünf Jahre Pause zwischen dem Vorgänger "Hell In Eden" und "Melancholin" haben also ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Diary Of Dreams wirken auf ihrem aktuellen Longplayer wieder eine Ecke reifer und sorgen, trotz ihrer langen Karriere, immer noch für erstaunliche Höhepunkte.
Darüber zu spekulieren, ob Tess de la Cour mit ihrem Soloprojekt Memoria einen gleichsam langen Atem besitzt, ist müßig. Der Blick auf das bisher Geleistete gibt da eher Aufschluss über das Talent der Musikerin. Ihr Debüt "Cravings" von 2019 positionierte die Chanteuse mit der eindringlichen, wandelbaren Stimme schon recht deutlich im traditionellen Trübsinn-Musikzirkus.
Die schreibende Zunft nennt es einfachheitshalber Dark Wave, und auch wie Adrian Hates, gibt sich auch Tess de la Cour mit der Kategorisierung zufrieden. Aber eigentlich ist es, bei beiden, viel mehr als nur das.
Ihr zweites Album "From The Bones" spielt nämlich frank und frei mit allem, was an dystopischer Musik vorhanden ist. Da darf es dann auch mal elektronisch tanzbar in "Girl" zugehen - allen voran die rollende Basssequenz ist feinster Clubzucker, der einen geradezu auf die Tanzfläche zieht. "Canary" besticht durch eine markante Synthilinie in fast bach'scher Manier, während "I'm Sorry" Post-Punk-Gitarren aufheulen lässt. Schließlich tendiert Memoria bei "From The Bones Of The Dead" in einen elektronisch aufgepolsterten Rock, der sich in stilistischer Nähe zu The Birthday Massacre befindet, ohne aber deren Retrocharme zu adaptieren.
Insgesamt also eine Menge los auf "From The Bones", das übrigens seine Hauptinspiration aus dem Film "Gretel & Hänsel" von Oz Perkins aus dem Jahre 2020 gezogen hat. Dennoch wirkt das zweite Album rund und in sich geschlossen, was einmal mehr auf Tess' stimmlicher Leistung zurückzuführen ist. Von klar bis verzerrt, von sanft bis fordernd bedient sie so ziemlich die komplette Emotionspalette.
Während bei "Cravings" Ehemann Henric ihr noch beim Songwriting unter die Arme gegriffen hat, ist "From The Bones" wesentlich autarker entstanden. Zwar haben andere Musiker, mit den die de la Cours befreundet sind, am Mastering teilgenommen, doch letzten Endes liefen die Fäden alle bei der Musikerin zusammen, die sich mit ihren Songs einmal mehr in die Abgründe des Menschen begeben hat, aber auch politische und persönliche Aspekte nicht außen vorläßt.
Reden wir von Weltschmerz, von Melancholie, von Trauer und Zerfall, sind in diesem Frühjahr die beiden Namen Diary Of Dreams und Memoria quasi unabkömmlich. Der Gruppe und der Musikerin gelingen zwei herausragend schöne Alben, in denen sich die Tristesse von ihrer schönsten (oder schlimmsten, je nach dem) Seite zeigt. Vor allem aber bleiben sie eigenständig in ihrem Schaffen und fallen keinen Gruftie-Stereotypien anheim. Bei aller Traurigkeit dann doch wieder sehr erfreulich.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 24.02.23 | KONTAKT | WEITER: VARIOUS ARTISTS "MUSIK, MUSIC, MUSIQUE 3.0" VS. SVEN VÄTH "WHAT I USED TO PLAY">
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