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WELLE:ERDBALL "ICH RETTE DICH": OPIUM FÜRS VOLK

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Alle Medien sind böse – nur das Radio nicht. So in etwa lautet, in kleidsamen Telegrammstil verpackt, die konsequente Ansage der aktuellen Welle:Erdball-EP "Ich rette Dich". Und die passt wiederum, wer hätte es gedacht, millimetergenau ins künstlerische Gesamtkonzept der Commodore-Enthusiasten. Schließlich fungieren Honey und A.L.F, nett-adrette Vordenker des Quartetts, seit jeher als Intendanten ihres retro-formidablen Radio-Senders, der zurzeit auf Hochfrequenz geschaltet ist. Im vergangenen Februar erst schnellte das erstaunlich homogen gehaltene Werk "Tanzmusik für Roboter" über den Äther, jetzt schieben Welle:Erdball mit "Ich rette dich" eine Single in Überlänge nach – C-64-Komposition in Reinkultur und Stippvisite im rheingold’schen Klangfundus inklusive.

Bereits auf dem 1996er-Album, "Tanzpalast 2000", klagte Honey: "Wo kommen all die Geister her?" und entlarvte das Fernsehen schnell als audiovisuellen Dämon, munter plätschernder Sammelpunkt eines hirnzersetzenden Flachsinns.

Mit "Ich rette dich" knüpft der eisern sonnenbebrillte Frontmann an seine frühe Kritik an: In der aktuellen Sendung gewinnt die Mahnung von einst an Intensität, klingt allerdings, notabene: allgemeiner Info-Overkill, fast wie ein putziges pars pro toto.

Passive Fernseh-Berieselung? In Zeiten von Internet-TV, interaktiven Publikums-Formaten und der Social-Media-Kommentarfunktion, 24/7, kommt dieses Thema auf den ersten Blick seltsam altmodisch daher. Wer unter die Oberfläche dringt, lernt jedoch schnell: Die Wirkung ist im Grunde immer noch
die gleiche. "Total betäubt und außer Betrieb, begreif' ich nicht, was wirklich geschieht", besingt Honey den Status Quo einer merklich zunehmenden Zuschauer-Tristesse. Das Fernsehprogramm verblödet nicht nur, es sediert den Bürger: Opium fürs Volk, das sich – Diagnose: medial bedingte Lethargie – sämtliche Unverschämtheiten von Politik, Wirtschaft und Co. um die Ohren schlagen lässt.

TV an, Gehirn aus.

So auch im plakativ getünchten Mittelteil von "Ich rette dich", in dem Welle:Erdball verschiedene Tonfragmente zu einem schnonungslosen Fernseh-Massaker montieren. Ohne Sinn und Plan zappt der Sender durch die Kanäle – und hält dem Hörer auf diese Art und Weise den Spiegel vor.

Das Ganze erinnert natürlich schwer an Daniel Millers
"T.V.O.D.", jener vollkommen zu Unrecht verkannten B-Seite der "Warm Leatherette"-Single: Hier schiebt sich der Protagonist sein heimisches Fernsehkabel einfach mal direkt unter die Haut, um die Signale besser, und vor allen Dingen: störungsfreier, empfangen zu können. Dabei switcht Millers Komposition ebenfalls munter zwischen den Programme umher: Eine willkommene Ergänzung für den Welle:Erdball-Kosmos.

In seinem natürlichen Lebensraum funktioniert das Stilmittel einwandfrei – und gefiel dem Radio-Kollektiv aus der Niedersachsen-Metropole Hannover offenbar so gut, dass der Kunstgriff auch im druckvollen "Spiel mit der Welt" zum Einsatz kommt. Ebenfalls mit von der Partie: Große Politiker, skrupelloser Machthunger. Und das alles natürlich auf Kosten der Bürger. Logisch, dass für diese Nummer gleich mehrere Wolf-im-Schafspelz-Zitate aus den prall gefüllten Klang-Archiven des politischen Welt-Theaters geholt wurden: So taucht in friedlicher Nachbarschaft zu Ulbrichts "Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten"-Zitat auch die berüchtigte "Ehrenwort"-Rede von Uwe Barschel auf.

Aus der Perspektive dieser vergifteten Gegenwart betrachtet, wird die glorreich güldene Vergangenheit fast automatisch zur Projektionsfläche des Idealisten – und winkt als nostalgischer Hoffnungsschimmer aus der Ferne.

Daran lässt zumindest das utopische Schunkellied "Das Radio, das Ohr der Welt" keinerlei Zweifel aufkommen. Auch wenn um ihn herum gerade der gesamte Planet in Schutt und Asche versinkt: Der Protagonist dieser 50er-Jahre-Schlagerparodie lauscht trotzig, die Liebste ganz fest im Arm, den weisen Worten von Altkanzler Konrad Adenauer, dessen heimelige Stimme aus dem Kofferradio tönt.

Eine biedere Ästhetik im Grunde, die hier als restauratives Moment zwischen Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder heraufbeschworen wird. Tatsächlich aber wohnt dem Retro-Modus in unserer bis zum Anschlag beschleunigten Gegenwart etwas ungemein Tröstliches inne: Die Erinnerung an eine Zeit, in der alles möglich schien.

Was bei Kraftwerk
noch als reines Abgrenzungsritual vom anglo-amerikanischen Rock'n'Roll-Image fungierte, wird bei Welle:Erdball nun zum höchsten Lebensglück stilisiert: Der Nierentisch als Nonplusultra!

Sicherlich ist auch das Liedgut von "Ich rette dich" nicht frei von Polemik, aber Welle:Erdball halten seit Sendungsbeginn an ihrer Meinung fest. Angepasstheit ist ihre Sache nicht. Trotzdem, oder gerade deshalb, verbuchen die Hannoveraner seit mehr als 20 Jahren im Musikgeschäft anhaltende Erfolge – und schaffen es spielend, auf ihren Konzerten Menschen verschiedenster Couleur in friedlicher Ko-Existenz zu vereinen. Hier trifft der emobebrillte Computer-Nerd auf den nietenbehangenen Punker; dunkelbunte Alt-NDWler hüpfen fröhlich durch die dezent
schwofenden Reihen weißgetünchter Batcave-Veteranen, und selbst langhaarige Metal-Fans oder martialische EBM-Stampfer kommen auf ihre Kosten. Ein unglaubliches Bild.

Apropos unglaublich: Das trifft bei Welle:Erdball auch angesichts des untrüglich sicheren Gespürs für ansprechende Neuinterpretation den Nagel auf den Kopf. Fehlfarbens
"Ein Jahr (es geht voran)" steht hier nach wie vor an erster Stelle, aber auch lang geliebte Titel wie "Berühren" von Profil oder zuletzt "Die Roboter" von Kraftwerk scheinen nach respektvoller Bearbeitung durch den Sender wieder taufrisch und präsentieren sich in neuem Glanz.

Für "Ich rette dich" holen die 8-Bit-Fetischisten nun Rheingolds
"FanFanFanatisch" aus der Plattenkiste; ein Stück aus dem kontrovers diskutierten Horror-Film "Der Fan" von 1982. Rheingold-Sänger Bodo Staiger war damals übrigens in der Hauptrolle des Popstars "R" zu sehen, der eine verhängnisvolle Affäre mit einem Fan beginnt.

Die transparente Melodie der Rheingold-Version wird bei Honey und Co. mit drückenden Beats und knarzenden Basslinien unterfüttert. Damit schlägt die Band gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie huldigt
nicht nur der Neuen Deutschen Welle als musikalische Heimat des Projekts, sondern lassen gleichzeitig einen eingängigen Club-Track vom Stapel, der in den Tanztempeln der Republik sicherlich auf schwerer Rotation laufen dürfte.

Wenn Musiker nichts Neues mehr zu bieten haben, wird ihnen das in der Regel schnell zum Verhängnis. Anders bei Welle:Erdball, wo zur Freude der Hörerschaft neben dem stilvollen Retro-Look auch klanglich alles beim Alten geblieben ist.

Klar, dass dieser musikalisch eng gespannte Kosmos hier und da an seine Grenzen geraten muss. In den vergangenen Jahren waren daher leider auch einige Verschleißerscheinungen spürbar: So erwiesen sich die künstlerischen Ausflüge in Richtung Film oder Hörspiel als leiser Störfaktor im Gesamtbild des Senders.

Doch mit diesem Jahr wurden sämtliche Zweifel einfach nonchalant weggewischt. Die Ideen sind zurück, der absolute Wille zur ultimativen Melodie deutlich erkennbar und auch aktuell wieder nahezu perfekt umgesetzt. Selbst der komplett am Commodore 64 komponierte und ergo von Haus aus holprige Song "Die Wahrheit" präsentiert sich als schlüssig anschmiegsame Hyme.

Kurz vor Ende der "Ich rette dich"-EP wartet übrigens noch eine echte Überraschung auf den Hörer: Erstmals wurde hier, absolute Premiere also, ein Remix auf einen Welle:Erdball-Tonträger übernommen. An den Reglern: Massiv in Mensch
. Das Elektro-Projekt hat den Titelsong noch einmal ordentlich auf Diskotheken-Klang gebürstet, handelt dabei jedoch wohl überlegt und behält den Song in seinem Kern bei. Nur an einigen neuralgischen Punkten, wie der Rhythmussektion und dem Gesang, ist die Neuausrichtung des Klangwerks deutlich spürbar. Chapeau dafür!

Nach diesem überaus erfolgreichen Jahr wird deutlich, dass der viel beweinte Abschied von Frl. Plastique
Anno 2013 vielleicht auch etwas Gutes hatte – zumindest für die Band. Schließlich war die fotogene, überaus inszenierungsfreudige Sängerin zuletzt nahezu omnipräsent – und stahl Honey, A.L.F. und Frl. Venus leider nicht nur bei den Bühnenauftritten zunehmend die Show.

Mit Lady Lila
besitzt die Gruppe nun wieder ein Mitglied, das sich im Sinne eines harmonischen, gut ausbalancierten Gesamtkunstwerks mehr in den Dienst der Sache stellt. Das ist auch auf der aktuellen EP wieder deutlich hörbar: "Ich rette dich" – diese Rettungsaktion ist wirklich fabelhaft geglückt.

|| TEXT: DANIEL DRESSLER / ANTJE BISSINGER / DATUM: 09.11.2014 | KONTAKT | WEITER: "SO 80S PRESENTS ALPHAVILLE"  >




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www.welle-erdball.info


BILDQUELLE © OBLIVION / SPV; BANDFOTOS: © WELLE:ERDBALL / ALEX HEIN.

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