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Es ist das Jahr des Umbruchs. Die Vorhersagen der Prognostiker, sei es zum Ausstieg Englands aus der EU oder zur Wahl des nächsten amerikanischen Präsidenten, liefen kolossal ins Leere und lehrten den bisherigen Staatsmännern Ohnmacht. Journalisten bemühen deshalb dieser Tage gerne den Begriff der "Zeitenwende". Eine solche sollte sich auch in der Kunst anbahnen, da sie immer noch genügend moralischen Einfluss auf die Menschen besitzt. Es ist Zeit, Stellung zu beziehen!
Das tut Jerome Reuter mit seinem Dark-Folk-Projekt Rome und dem aktuellen Werk "The Hyperion Machine". Aber eigentlich tat er das schon immer mit seinen Veröffentlichungen, obgleich er sich nicht als politischen Musiker versteht. Spätestens seit dem Meisterwerk "Flowers From Exile" treibt ihn immer mehr die Frage nach der individuellen Freiheit umher.
Jerome ist ein Intellektueller, ein belesener Chansonnier, und seine Platten verweisen nicht selten auf literarische Werke. Wie beim Tripel-Album "Die Ästhetik der Herrschaftsfreiheit" von 2011, das sich an Peter Weiss' ebenfalls epochales, dreibändiges "Die Ästhetik des Widerstands" anlehnt.
Bei "The Hyperion Machine" können gleich zwei literarische Vorlagen ausgemacht werden. Zum einen Friedrich Hölderlins Briefroman "Hyperion", das vom Leben des Griechen Hyperion handelt, der im 18. Jahrhundert lebt und für den Befreiungskampf gegen die Türkei begeistert wird. Im Krieg verletzt und von den Gräueltaten angewidert, flieht er nach Deutschland und kehrt desillusioniert in sein Heimatland zurück. Als Eremit auf einer der vielen Inseln berichtet er rückblickend seinem deutschen Freund Bellarmin über sein Leben.
Mit dem Albumtitel allerdings liegt er auch in semantischer Nähe zu Heiner Müllers Theaterstück "Die Hamletmaschine". Kein unwichtiges Detail, denn wie bei Müller, der das Shakespeare-Werk zitatweise nutzte, um ein Stimmungsbild der DDR kurz vor dem Mauerfall zu skizzieren, bedient sich Rome ebenfalls nur lose bei der Literaturvorlage.
Am Ende streifen seine Gedanken in die jüngere Vergangenheit. "The Secret Germany" ist Paul Celan gewidmet, dessen berühmtes Gedicht "Todesfuge" den systematischen Mord der Nationalsozialisten an den Juden thematisiert. Auch das abschließende Quasi-Hörspiel "Die Mörder Mühsams" erinnert an den Schriftsteller Erich Mühsam, der im Gegensatz zu Celan das NS-Regime nicht überlebte und im Konzentrationslager Oranienburg getötet wurde.
Was anfangs etwas willkürlich wirkt, folgt doch einer übergeordneten Idee, die zu Beginn von "The Hyperion Machine" mit einem schweren Glockenschlag und folgenden Sätzen eingeleitet wird: "(...) im Rücken die Ruinen der Festung Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein". Der Kontinent stand und steht immer noch großen Herausforderungen gegenüber, deren Ziel am Ende die Freiheit sein muss. "Verschließe nicht das Tor, verschließe nicht Dein Herz. Lasst weder Angst noch Hass Europas Erbe bestimmen" beginnt "The Secret Germany" und schlägt somit eine Brücke in die so unstete Gegenwart, in der die Idee eines geeinten Europas ein ums andere Mal auf die Probe gestellt wird.
Auf einem liebevoll gemachten Bett aus akustischen Folk-Songs und progressiv mit Streichern und einer Prise Elektronik arrangierten Düster-Nummern, spielt Jerome mit den Wörtern und bleibt immer vage in seinen Aussagen. Ihm liegt es fern, die Dinge beim Namen zu nennen. Lieber verklausuliert er seine Gedanken in allgemeingültige Metaphern, die dadurch einen großen Interpretationsspielraum zulassen.
Kritiker mögen ihm eine über-intellektuelle Verkopftheit attestieren. Doch dies gleicht er mit erstaunlich eingängigen Songs aus. "Transference" und vor allem "Cities Of Asylum" ziehen das sonst eher gemächliche Tempo etwas an und besitzen einen hohen Wiedererkennungswert. Und mit Stücken wie "Adamas" dürfte Jerome auch wieder jene abholen, die besonders die Frühphase Romes favorisieren, als der Luxemburger mit schweren Einsatz stimmungsvoller Samples in Endlosschleife seinen Liedern einen majestätisch-martialische Anstrich verlieh.
"The Hyperion Machine" ist offensichtlich von einer tiefen Schwermut durchzogen. Der Blick richtet sich sorgenvoll auf einen Kontinent, der im Begriff ist, all seine humanistischen Werte zu verlieren. Doch schließlich stellt Jerome sich und den Hörern die Frage: "Wer rettet uns den Frieden wenn nicht wir selbst?". Jeder einzelne ist aufgefordert, seine eigene Freiheit und die seiner Mitmenschen zu verteidigen.
Eine Frage jedoch bleibt: Sind wir überhaupt noch frei? Oder sind wir bereits Teil einer gigantischen Maschinerie, die uns Freiheit nur vorgaukelt, um uns zu willfährigen Konsumenten zu machen? Dies behaupten zumindest die Elektroniker von Rotersand mit ihrem neuesten Album "Capitalism™", das Tanzschuppenfutter und philosophische Abhandlung zugleich ist.
Der Kapitalismus ist nicht mehr nur eine Form der Marktwirtschaft, sondern eine monotheistische Religion. Ihre Kathedralen sind die Aktienmärkte dieser Welt, Wirtschaftsweisen die Heils- oder Unheislbringer, und unzählige Notenbündel der Heilige Gral. So gaukelt auch das Cover von "Capitalism™" eine geradezu religiös verklärte Scheinwelt vor, in der Sänger Rasc und Musiker Krischan (mit Rauschgoldbart) bewusst überzogen photogeshoppt wurden, sodass ihr Antlitz keine Spur mehr von wärmender Menschlichkeit besitzen. Stattdessen sind sie gebrandmarkt, unter anderem von den verschiedenen Währungssymbolen. Umgeben von einer Kette, an deren beiden Enden ein Bulle und ein Bär, die Tiersymbole für einen auf- bzw. abschwingenden Aktienmarkt, Aug' in Aug' gegenüberstehen.
Und als ob dieses satirische Votivbild nicht ausreichen würde, umrahmen Rotersand es mit der Kernaussage ihres Titelsongs: "You Dwell In Our Matrix, Like Monkeys in A Tree, Controlled By Informatics, Believing That You Are Free." Die Gesellschaft entfremdet sich von sich selbst und gibt sich einer virtuellen Freiheit hin, die aber genau das Gegenteil bewirkt. Wer mal die wie sklavisch auf ihre Smartphones blickenden Menschen, beispielsweise an einem Bahnsteig, beobachtet, bekommt schnell eine greifbares Bild von Rotersands Kritk.
Für ihre scharfen Worte bedarf es aber keiner Betroffenheitskomposition, um die Intensität ihrer Aussage zu steigern. Sie verlassen sich auf die wütenden Sequenzen und knackigen Bass-Drums, die wie Faustschläge in die Magengegend landen. Keine Spur von Fatalismus, dafür jede Menge Energie und Auflehnung gegen eine Menschheit, die sich im digitalen Dämmerzustand befindet, während in der realen Welt Stück für Stück unsere Rechte beschnitten werden.
"Capitalism™" lädt zum schwindelerregenden Tanz am Abgrund ein. Die druckvollen Tracks Krischans, die sich mal bedächtig aufbauen wie bei "Not Alone" oder gleich einem Sturm in "Monopole" losbrausen, zielen gleichermaßen auf die Beine und das Hirn des Hörers. Ja, es darf getanzt werden bei Rotersand. Aber es muss gleichzeitig nachgedacht werden über unsere Zukunft, die alles andere als verheißungsvoll aussieht.
Schon ihr sieben Jahre zurückliegender Vorgänger "Random Is Resistance" beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie sich unsere Gesellschaft immer stärker zu einer gleichförmigen Masse ausbildet, in der laut Titel eben bereits der Zufall Widerstand ist. Unangepasstheit ist bei Rotersand Programm, die sich musikalisch keinen Schranken beugen und aus verschiedenen Stilen ihren ganz eigenes Soundsüppchen kochen, der weder Techno, noch EBM, noch Future-Pop ist, jedoch all diese Lager bedient.
Aber nicht nur sie erlauben sich diese Freiheit. Sie animieren auch uns, die Scheuklappen abzunehmen. Das spannungsgeladene "Disagree" fordert jeden einzelnen auf, nicht alles als gottgegeben hinzunehmen und auch mal dagegen zu sein. Empört Euch! Wie in "Monopole": "Adapt Your Body And Your Soul, You Keep It Quiet, We Keep You Whole" – eine deutliche Ansage gegen unser sediertes Leben. Eingelullt von Kochsendungen, amerikanischen Krimi-Serien und unsäglichen Reality-Shows verliert der deutsche Michel sämtlichen Antrieb zum kritischen Hinterfragen der Zusammenhänge und wird zum Spielball großer Konzerne, deren einziges Ziel größtmöglicher Profit ist. "We Take All And The Rest Is Yours", spöttelt Rasc im Stück "Capitalism™".
Vielleicht gelingt uns aber eines Tages der Ausbruch aus diesem Hamsterrad. Vielleicht erkennen wir dann, dass nicht das neueste Smartphone oder die nächste Videospielekonsole die Schlüssel für ein erfülltes Leben sind, sondern die reale Gemeinschaft, Mitmenschlichkeit und Achtsamkeit die Pfeiler eines humanen Daseins bilden. Solange dies aber noch nicht bei allen angekommen ist, sind solche Alben wie Romes "The Hyperion Machine" und Rotersands "Capitalism™" unverzichtbare Weckrufe.
||TEXT: DANIEL DRESSLER | DATUM: 23.11.16 | KONTAKT | WEITER: KURZ ANGESPIELT 9/16>
Webseite:
www.rome.lu
www.rotersand.net
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