MUSIKSPIEGEL 12/2014: WEM DIE LETZTE STUNDE SCHLÄGT - UNTER.TON | MAGAZIN FÜR KLANG- UND SUBKULTUR

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MUSIKSPIEGEL 12/2014: WEM DIE LETZTE STUNDE SCHLÄGT

Kling & Klang > MONATS-REVUE

Schon wieder ist ein Jahr mit rasender Geschwindigkeit an uns vorbei gezogen. Doch obgleich 2014 als Eintrag in die Enzyklopädien und Geschichtsbücher unseres Erdballs nun endgültig seine letzte Ruhe gefunden haben dürfte, verabschiedete es sich mit einem von Pauken und Trompeten durchfluteten Schlussakkord, dessen Hall wir noch jetzt vernehmen können.

Der Dezember 2014: Es war irgendwie ein Monat des Abschieds.


Vieles haben wir verloren: Mit Udo Jürgens
einen zwar streitbaren, aber durchaus anspruchsvollen Schlagersänger; mit Joe Cocker gleich tags darauf eine begnadete Rockröhre und den ungekrönten Meister gepflegter Coverversionen, dessen unerwartetes Ableben den hiesigen Gazetten leider nur eine Randnotiz wert gewesen ist – und mit "Wetten, dass...?" den Inbegriff großformatiger, familienorientierter Samstagabendunterhaltung.

Apropos: Am Ende der mehrstündigen medialen Beerdigungszeremonie schmetterte der unheilige Graf (wie immer ganz "stilecht" mit ausladendener Kerzenhalter-Deko auf der Bühne) seine Power-Ballade "Zeit zu gehen", ein pathetisches Vermächtnis an die Fans und Weggefährten. Denn wie "Wetten, dass...?", so verabschiedet sich nun auch Unheilig von der großen Bühne.


Den Abgang plante der Sänger mit der markanten Dreifaltigkeits-Bartfrisur seit langem. Denn wie spricht der Volksmund? "Wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören".

Unheilig tun dies aber nicht heimlich, still und leise: Bis Der Graf
sich auf unbestimmte Zeit in seine privaten Gemächer zurückzieht, wird er 2015 natürlich noch einmal ausgiebig die Republik bereisen und seine Gassenhauer zum Besten geben. Und nicht zuletzt ist da auch "Gipfelstürmer", notabene letztes Album, das während der Konzertreise bestimmt noch einmal die gräfliche Kasse klingen lassen wird. Rein inhaltlich gibt es nicht viel zu sagen: "Gipfelstürmer" klingt so, wie man es erwartet: In der Geste groß, in der Botschaft altklug, um nicht zu sagen: altbacken.

Der Abtritt selbst
indes überrascht.

Ganze zehn Jahre mussten immerhin vergehen, ehe mit der Single "An deiner Seite" und letztendlich "Geboren um zu leben" die breitenwirksame Akzeptanz ihren Auftakt nahm. Davor bewegte sich Unheilig in pseudo-rammsteinigen Kreisen, was ihm bei den Vollzeitmelancholikern der Gruftieszene sowohl Sympathien, aber auch diverse Anfeindungen einbrachte. Kritiker der ersten Stunde fühlten sich bestätigt, als Der Graf – mittlerweile seiner Vampirkontaktlinsen entledigt – in der piefigen Schunkelgala von Carmen Nebel auftrat.

Doch seien wir ehrlich: Wenn ein Musiker die Möglichkeit bekommt, vor einem Millionenpublikum aufzutreten, um sein Liedgut an den Mann zu bringen, würde vermutlich fast jeder zusagen; sei er auch noch so independent, anti-irgendwas oder "true", wie es im Neudeutschen bekanntlich heißt.


Kunst soll und muss nicht zwangsläufig auch brotlos sein. Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube, und wer im Bereich der (Hoch)Kultur agiert, hat von dieser Binsenweisheit irgendwann auch mal die Nase voll. Denn auch hier gilt es, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, Rechnungen zu zahlen oder gar das für die Arbeit nötige Equipment anzuschaffen.

Eine faire Entlohnung hat auch viel mit Respekt zu tun. Diesen suchen wir in unserer bisweilen ernüchternden Autoren-Tätigkeit übrigens bis heute vergeblich. Aber dies sei hier nur mal am Rande erwähnt.

Sicher braucht es nicht gleich die kommerzielle Massen-Nummer, doch hinter den Kulissen gibt es letztendlich immer auch Verträge und – meist unabhängig von Größe oder Breitenwirksamkeit – die PR-Verantwortliche der jeweiligen Plattenfirmen, die Mitsprache einfordern und die Einhaltung von für den Musiker möglicherweise auch mal unliebsamen Terminen fordern.


Vier Jahre, zig Millionen verkaufte Alben und unzählige, bis zum Bersten gefüllte Hallen später ist Der Graf jedenfalls Teil einer gut geölten
Marketing-Maschine geworden, überhäuft mit teils fragwürdigen, teils renommierten Preisen. Es hätte sicherlich ganz gut so weiter laufen können. Doch scheinbar wiegen Ruhm und Erfolg am Ende doch nicht so schwer wie der Wunsch, ein intaktes Familienleben zu wahren, wenn man den Aussagen des Frontmanns Glauben schenken darf.

Insofern sei ihm – zumindest für diesen Schritt – Respekt entgegengebracht.

Ganz weg wird er aber sicher nie sein. UNTER.TON wüsste jedenfalls schon ein neues gräfliches Betätigungsfeld: Hörspiel- und Synchronsprecher. Denn sein Sangestalent in allen Ehren: Die samtweiche Sprechstimme des ehemaligen Stotterers besitzt Potential - und (zumindest für unseren Geschmack)
weitaus mehr Ausstrahlungskraft als seine bardischen Darbietungen.

Apropos Ausstrahlung: Die haben auch The Last Hour aus Italien – und das ganz ohne große Gesten.


Passend zum Jahresende erschien via Internet ihr neuestes Werk "Deadline". Klingt alles höchst final – ist es auch. Das Projekt zelebriert einen kontemplativen, elektronisch unterfütterten Cold-Wave, der in seinen Arrangements zwar überschaubar ist, durch die hypnotische Stimme von Chefdenker Roberto del Vecchio
jedoch eine schwermütig-somnambule Dimension erhält. Über die Bandcamp-Seite der Formation kann das majestätische Werk aktuell gehört werden; allen voran wollen wir euch "Everything Fades Away", "Deep Blue Space" und "Nowhere" ganz besonders ans Herz legen. The Last Hour laufen glücklicherweise keinem nervtötenden Lack- und Ledertrend hinterher, sondern genügen sich selbst und ihrer gleichsam entspannenden und melancholischen Klanglandschaft. Eine außergewöhnliche, große Band, die es unbedingt zu entdecken gilt!

Groß waren Visage auch einmal. Und wie zum trotzigen Beweis dafür ließ Frontmann und New-Romantic-Harlekin Steve Strange auf "Orchestral" – der Titel lässt es bereits erahnen – seine Hits aus den Anfangstagen jetzt klassisch aufbrezeln.


Eine zwar nicht mehr neue, aber immer noch zugkräftige Idee. Damit dieses Vorhaben am Ende aber auch von Erfolg gekrönt ist, muss zumindest eine Vision seitens des Künstlers vorhanden sein. Bei Herrn Strange fehlte diese anscheinend: Die meisten Neuaufnahmen wirken so, als ob das Orchester hier ganz bewusst gegen die Synthesizer und Schlagwerkprogrammierungen an arbeiten würde. Harmonie klingt jedenfalls anders, was besonders dem Evergreen "Fade To Grey" irreparable Schäden zufügt. Lediglich "The Anvil" wirkt schlüssig und kann den Fan kurzzeitig versöhnen. Unter dem Strich bleibt "Orchestral" aber eine unausgegorene, wie unter Zeitdruck zusammengeschusterte Platte, die dem Ruf des einstigen Helden elektronischer Popmusik mit Sicherheit nicht zuträglich sein wird.

Doch um die Zukunft der synthetischen Klangerzeugung braucht sich trotzdem noch niemand zu sorgen, solange es Gruppen wie Mlada Fronta aus Frankreich gibt.


Jüngst erschien ihr Werk "Polygon", ein schwer zu zähmendes Monstrum aus messerscharfen Bass-Lines, zementschweren Beats und eisig-berauschenden Klängen. Dass das Projekt aus Frankreich stammt, ist auf dem ersten Blick gar nicht so offensichtlich: Unsere rotweinaffinen Nachbarn dominieren dank Daft Punk
eher den cluborientierten, leicht verschrobenen French-House. Davon ist Mlada-Fronta weit entfernt. Und doch wohnt "Polygon" diese typisch französische Eigenschaft inne, bestehende Genregrenzen nonchalant zu übertreten, um eine eigene musikalische Wahrheit zu proklamieren. "Polygon" kommt übrigens gänzlich ohne Text aus.

Es benötigt eben nicht immer sinnschwangere Strophen für den absoluten Lustgewinn...

||TEXT: DANIEL DRESSLER  / ANTJE BISSINGER | DATUM: 13.01.15 |  KONTAKT |  WEITER: CD-Kritik RASP (MATT HOWDEN/JO QUAIL) "RADIATE-POWER-WORDS" >

COVER © AUGUST DAY/ROUGH TRADE (VISAGE), VERTIGO BERLIN/UNIVERSAL MUSIC (UNHEILIG), ARTOFFACT RECORDS (MLADA FRONTA), WHITE ROOM NETLABEL (THE LAST HOUR).

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